Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
die so kostbar für mich waren und noch heute sind, kleine Perlen, die in meiner Erinnerung aufblitzen: Rhea und ich, wie wir auf unseren Fahrrädern über die Felder hinter unserer Siedlung radeln. Es ist heiß, und auf den Feldern sprühen große Sprinkler Wasser auf die trockene Erde. Der Mechanismus lässt den Wasserfächer von einer Seite zur anderen schwenken und wieder zurück. Wir springen von den Rädern und laufen unter den Wasserschleier, weichen juchzend wieder zurück und kommen näher, es ist wie ein ausgelassener Kindertanz, in dem wir uns beregnen lassen, bis wir erschöpft und durchnässt weiterfahren, uns ein Plätzchen suchen, wo wir uns von der Sonne trocknen lassen und dabei Blüten zu Kränzen aneinanderfädeln …
Das Leben konnte so einfach sein und so schön. In diesem wunderbaren Sommer 95, bevor alles kippen und zerbrechen und für immer kaputt gehen sollte, in diesen Wochen des Friedens und der ausgelassenen Freiheit, die ich erleben durfte, traf ich mich fast täglich mit Rhea und Simone, und wenn wir uns nicht sehen konnten, telefonierten wir, und wenn das nicht ging, schrieben wir uns Briefe, manchmal mehrere an einem Tag. Auch ein Gedicht schrieb ich, das ich Rhea widmete. Später wurde ein Song daraus:
Ein oranger Raum
Eine grüne Tür
Eine gelbe Wand
Gib mir deine Hand
Mit dem Teppich dort
Flieg ich mit dir fort
In die schwarze Nacht
Hab ich mir gedacht
Ein oranger Raum
Keine grüne Tür
Mit der gelben Hand
Verschwind ich in der Wand
In die schwarze Nacht –
Mal sehen, was der Mond sacht.
Zum einen waren wir noch richtige Kinder, die auf dem Feld unterm Wassersprinkler herumtanzten, zum Baden fuhren, Eis aßen, bei Lukas zu Hause anriefen, um dann ganz schnell aufzulegen, weil ich schon wieder Herzklopfen hatte und nicht wusste, was ich sagen sollte. Stattdessen schrieb ich auch Lukas Briefe, die er beantwortete; das Schreiben wurde eine ganz wichtige Angelegenheit in diesen Wochen, denn das Formulieren half mir, wirklich zu verstehen, was ich fühlte, wirklich auszudrücken, was ich meinte. Ich las Hermann Hesse und grübelte über den Sinn des Lebens, den Sinn meines Lebens nach, und meine Gedanken und Erkenntnisse vertraute ich meinem Tagebuch an oder Lukas oder Rhea in meinen Briefen. Ich hörte Janis Joplin, verinnerlichte das Lebensmotto dieser ganzen Sex and Drugs and Rock ’n Roll-Generation: »Live fast, love hard, die young.« Und so probten wir auch schon ein bisschen das Erwachsensein, rauchten heimlich das Gras meines Vaters, diskutierten über Dinge, die wir nur halb verstanden, und hörten das Musical Hair rauf und runter. Ich verfeinerte immer mehr meinen Hippie-Stil, entdeckte »The Doors« für mich, hörte immer wieder das Stück »The End«. Und ahnte nicht, wie nahe am Abgrund wir uns alle bereits befanden.
12
»Willst du sterben?«
S chließlich war es so weit und Elke, Mourad, Meli und ich flogen gemeinsam mit einigen unserer Onkel an die türkische Riviera, nach Manavgat in der Nähe von Side. Leyla durfte nicht mitkommen, sondern blieb solange bei Ma und Pa. Eine Zweitfrau hatte in einem »ganz normalen deutschen Familienurlaub« schließlich keinen Platz.
Es war ein Urlaub mit vielen »ersten Malen«. Zum ersten Mal wohnten wir in einem richtigen Hotel, wo wir uns bald mit anderen Kindern anfreundeten. Auch Hamid und Elke fanden schnell Anschluss, mein Vater war wie immer sofort beliebt bei allen, er gab sich weltläufig, charmant, witzig und sorgte für interessanten Gesprächsstoff. Nach ein paar Tagen wurde die Idee geboren, gemeinsam mit einigen anderen deutschen und österreichischen Familien ein Boot für einen Tagesausflug zu mieten und die Flussmündung des Manavgat hinaufzufahren, der aus dem Taurus-Gebirge im Hinterland kam und eiskaltes Wasser mit sich führte, ehe er sich ins Mittelmeer ergoss. Am Ufer gab es eine Menge Fischrestaurants, an denen man anlegen konnte, zum Teil waren sie sogar über das Wasser gebaut.
Es begann als ein wunderschöner Ausflug: Ich saß mit meinen neuen Freundinnen auf der Überdachung des Bootes und sonnte mich. Auch wenn ich keinen Minirock, kein ausgeschnittenes T-Shirt und keine Shorts tragen durfte, so war mir doch ein Badeanzug erlaubt. Zu meinem letzten Geburtstag hatte ich einen Walkman bekommen, und auf dem hörte ich ununterbrochen »The Doors«, was mich in eine eigenartige Stimmung irgendwo zwischen Melancholie und Euphorie versetzte. Meinen Hippiemädchen-Look hatte ich vor Kurzem
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