Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
nämlich jede, etwas Bestimmtes für ihn zu tun, ihm zuliebe etwas zu machen oder sein zu lassen, je nachdem. Und so sehr ich mir auch bei jeder dieser Gelegenheiten wünschte, dass meine Freundin stark genug sein würde, ihm zu widerstehen, erlag doch jede irgendwann seinem Charme und tat, was er wollte. Mein Vater hatte außerdem ein unfehlbares Gefühl für die wunden Punkte eines Menschen. Bei Rhea war es ihr Make-up. Mein Vater scherzte mit uns und sagte, Rhea sähe mit ihrer weißen Schminke aus wie ein kleines Schlossgespenst. Und dann kam sein Vorstoß: »Warum gehst du nicht einfach hoch ins Bad«, schlug mein Vater Rhea vor, »und wäschst dir diese Schminke vom Gesicht? Komm! Tu es für mich!«
Und zu meinem großen Entsetzen stand Rhea auf, ging hinauf ins Badezimmer und wusch sich tatsächlich ihr Gesicht. Für mich brach eine Welt zusammen. Rhea mit ihren unbestechlichen Prinzipien, die nie einen Rock trug und sich auf keinen Fall fotografieren ließ – meine kluge, starke und weise Freundin, weltgewandt und unabhängig – mein Vater hatte auch sie herumgekriegt. »Wenn er das geschafft hat«, dachte ich verzweifelt, »dann würde er es auch schaffen, dass sie einen Rock anzieht oder sich fotografieren lässt.«
Erst später begriff ich, warum sie das getan hatte. Es war nicht Schwäche gewesen, sondern eine kluge Strategie: Nach dieser Sache mit dem Make-up vertraute mein Vater Rhea nämlich grenzenlos und erlaubte mir, mit ihr zusammen zu sein und mit ihr Dinge zu unternehmen, die sonst undenkbar gewesen wären. So wurde Rhea für mich zur Türöffnerin in die Welt, in der ich heute lebe. Sie wusch sich damals das Gesicht, weil sie ahnte, dass dies das Mittel war, um meinen Vater in Sicherheit zu wiegen und ihm das Gefühl zu geben, dass sie beide so etwas wie Verbündete waren. Rhea verzichtete auf ihren Stolz, um meinen Vater quasi auszutricksen. An jenem Tag, als sie sich »für meinen Vater« die Schminke abwusch, hielt er sich für den Sieger, doch im Grunde war es Rhea, die ihn besiegt hatte, denn sie tat es für mich. Sie tat es, um mir Freiräume zu schaffen, Luft zum Atmen zu geben und Erfahrungen außerhalb des Albtraums zu ermöglichen, der sich zwischen unseren vier Wänden tagtäglich abspielte.
Auch ich fand meine Wege, um meine Unabhängigkeit meinem Vater gegenüber trotzig zu behaupten – wenn auch im Verborgenen.
Nachdem ich bei Lukas zum ersten Mal gekifft hatte, tat ich etwas, das ich im Nachhinein als nahezu todesmutig empfinde: Ich klaute meinem Vater immer wieder sein selbst angebautes Gras. Und das Seltsame war, er merkte es nicht einmal. Dies waren meine kleinen Rachefeldzüge gegen ihn, und ich wagte tatsächlich noch mehr. Damit er am Geruch nicht merkte, wenn ich rauchte, gewöhnte ich mir an, mir immer genau dann einen Joint zu genehmigen, wenn auch mein Vater sich einen angezündet hatte. Dann saß er im Wohnzimmer gemütlich auf der Couch, und ich hockte unten vor meinem Zimmer unter der Kellertreppe, die vom Wohnzimmer offen hinunterführte, und behielt meinen Vater durch die Stufen immer im Auge für den Fall, dass ihm einfallen sollte, zu mir herunterzukommen. Er hätte eigentlich nur aufzuschauen brauchen, und schon hätte er mich entdeckt, doch das tat er nie.
Es war der Sommer 1995, und wie zehn Jahre zuvor, als Kornelia gestorben und mein Leben ganz und gar umgewälzt worden war, so war auch dieses Jahr voller Ereignisse, die zu einer großen Umwälzung führen sollten. Es ist ein seltsamer Zufall, dass die Fünf meine Lieblingszahl ist, denn tatsächlich ereignete sich alles Wesentliche in meinem Leben im Zusammenhang mit dieser Zahl. In diesem Sommer beschloss mein Vater, dass wir einen Sommerurlaub machen würden so wie Tausende von anderen deutschen Familien auch: eine Flugreise an die türkische Riviera. Eine »ganz normale Familie« würde einen »ganz normalen Familienurlaub« machen. Zuvor jedoch hatte mein Vater in der Türkei »etwas zu erledigen« und flog voraus. Ich weiß nicht mehr, wie viele Wochen er weg war; in meiner Erinnerung dehnt sich diese Zeitspanne aus und wurde zum glücklichsten und verrücktesten Sommer meiner ganzen Jugend bis dahin. Elke sah nicht ein, warum sie mir irgendetwas von dem, was mein Vater für »ausgeschlossen« hielt, verbieten sollte, und so konnte ich in diesen Wochen endlich einmal das Leben einer ganz normalen Vierzehnjährigen führen, so wie meine Freundinnen auch. Es sind kleine, unschuldige Begebenheiten,
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