Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
großer Stein direkt neben meinem Kopf. Ich konnte ihn nicht mehr heben, der Stein fixierte mein Haar fest am Boden. Damit machte er weiter, Fels um Fels beschwerte mein langes, ausgebreitetes Haar, dann die Arme und meine Beine. So lag ich da, unfähig, mich noch zu rühren, mein Haar fächerförmig ausgebreitet, und auf mir lagen Felsbrocken. Ich sah ein Stück Himmel zwischen den Baumwipfeln, während mein Vater den Rest meines Körpers, der nicht unter Steinen begraben war, mit Füßen trat und immer wieder mit seiner Pistole in die Luft schoss.
Vom Waldrand aus beobachteten Elke und mein Bruder uns in Panik. Elke hatte oft genug die Erfahrung gemacht, dass es nichts half, wenn sie versuchte mich zu schützen, dass sie mir nicht helfen konnte und stattdessen nur selbst Prügel bekam. Darum hielt sie sich meist zurück. Doch dieses Mal glaubte sie offenbar, dass Hamid ernst machen würde.
»Bitte nicht«, hörte ich sie schreien. »Hör doch auf! Frieden! Frieden!«
»Was ist los«, brüllte mein Vater zurück, »mischst du dich schon wieder ein?«
Und dann holte er auch sie. Nun geschah mit Elke dasselbe wie mit mir, auch sie fixierte er mithilfe großer Steinbrocken am Boden.
»So. Und jetzt sollt ihr beten!«, befahl er uns dann. Als wir nicht gleich reagierten, schrie er es nochmal: »Betet, ihr verdammten Huren, los, beten habe ich gesagt.«
Was für eine groteske Situation! Wie sollte ich, auf dem Rücken liegend, muslimische Gebete sprechen? Also murmelte ich irgendetwas: »Lieber Gott, mach dass dies bald vorübergeht. Mach, dass er mich schnell umbringt, mach, dass es nicht wehtut …« Aus den Augenwinkeln beobachtete ich erschrocken, wie mein Vater mit all seiner Kraft einen besonders schweren Felsbrocken hochwuchtete und in meine Richtung schwenkte. Es machte mir nichts aus zu sterben, aber ich hatte große Angst davor, dass es qualvoll sein würde. Diesen Felsbrocken, den mein Vater kaum halten konnte, auf den Kopf zu bekommen, stellte ich mir fürchterlich vor. »Warum erschießt er mich nicht einfach?«, fragte ich mich verzweifelt. Ich hatte über all die Jahre seltsame Strategien entwickelt, mit den Gewaltexzessen meines Vaters irgendwie umzugehen, ich hatte immer abgewogen, was ich tun musste, damit es der kürzere Schmerzensweg sein würde. Doch gesteinigt zu werden, damit hatte ich noch keine Erfahrung.
Ich sah, wie mein Vater ächzend näher kam, das Gesicht hochrot von der Anstrengung. Und dann auf einmal, wie aus heiterem Himmel, ließ mein Vater den Felsbrocken fallen und wandte sich von uns ab. Verlor das Interesse. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war es mit einem Mal vorbei. Und wie so oft setzt auch hier meine Erinnerung aus: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer uns von den Felsbrocken befreite und wie wir zurück ins Hotel kamen.
Ich hatte überlebt. Einmal mehr hatte ich überlebt. Doch dieses Mal war ich nicht wirklich froh darüber.
Zurück im Hotelzimmer, machte ich Bestandsaufnahme. Ich sah furchtbar aus. Ich fühlte mich, als sei ich von einem Lastwagen überfahren worden, überall hatte ich offene Wunden und schwere Prellungen an den Armen, Beinen und dem gesamten Körper, doch am meisten schmerzten mich die Verletzungen am Kopf. Mein Bruder war bei mir. Mourad wurde von Jahr zu Jahr immer stiller. Er litt mit mir, und mir tat es weh, ihn so zu sehen mit seinen zwölf Jahren.
»Wenn ich älter bin«, sagte er, »dann beschütze ich dich. Das verspreche ich dir!«
Und dann nahm ich ihn in die Arme, und wir weinten beide, er aus hilflosem Zorn und ich aus Mitleid mit ihm, dass er das alles mit ansehen musste.
»Wenn ich ein Auto fahren könnte«, schluchzte er, »dann hätte ich ihn totgefahren. Ich schwöre es dir.«
Wir hielten uns lange aneinander fest und redeten über all das, was dieser Tag gebracht hatte und was wir in den vergangenen Jahren mit meinem Vater erleben mussten.
»Wenn ich ein Mann bin«, wiederholte er immer wieder, »dann passiert dir das nicht mehr. Dann wird dir keiner mehr etwas tun!«
Sein Schmerz machte mich trauriger als alles andere. Und tatsächlich hat er sein Versprechen bis heute gehalten, ganz egal, was ich tue, welches Leben ich heute führe, auch wenn er manches vielleicht nicht gut findet; so habe ich immer diesen Schutz. Und das ist weiß Gott nicht selbstverständlich, wie die Geschichte von Hatun Sürücü beweist. Dass mein Bruder und ich bis heute – bei allen Streitigkeiten, die auch wir miteinander
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