Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
schrieb ihm einen Brief, und eines Abends nutzte ich die Gelegenheit, als ich den Müll rausbrachte, um rasch zu seinem Haus hinüberzulaufen und den Brief einzuwerfen. Er schrieb tatsächlich zurück. Lukas hatte begriffen, dass ein Kontakt zu mir nur auf diese Weise möglich war, so wie er auch verstand, dass er wie zufällig ein Stück des Weges mit mir gehen musste, wenn er mit mir sprechen wollte. Und wenn uns jemand entgegenkam, musste er so tun, als ob er mich gar nicht kannte.
Einige Wochen später, als ich mir ganz sicher war, dass mein Vater die nächsten zwei, drei Stunden nicht nach Hause kommen würde, wagte ich etwas Ungeheuerliches: Ich besuchte Lukas.
»Rauchst du?«, fragte er mich, als wir in seinem Zimmer saßen.
»Zigaretten?«, fragte ich zurück.
»Nee«, meinte Lukas, »richtig.«
Er zeigte mir seine »Bong«, eine selbstgebastelte Wasserpfeife, in der er Cannabis rauchte. Da wollte ich kein Angsthase sein, ich wusste ja auch längst Bescheid, hatte schließlich mehrere Sommer lang die Ernte meines Vaters sortieren geholfen. Und so kam es, dass ich das erste Mal kiffte. Mit Lukas. Wir unterhielten uns über Dinge, über die ich sonst noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Lukas machte sich viele Gedanken über die Welt und ihre Zusammenhänge, er erzählte mir, dass er regelmäßig meditiere, und tatsächlich meditierte ich einige Zeit später zum ersten Mal mit ihm gemeinsam. Er interessierte sich tatsächlich auch für »meine Welt«, hatte sich Bücher besorgt, um die Kultur zu verstehen, in der ich aufgewachsen war.
Während meines ersten heimlichen Besuchs bei Lukas hing natürlich auch das in der Luft, weswegen ich von meinem Vater völlig unbegründet schon unzählige Male verprügelt worden war: Sex. Doch auch hier war Lukas eine Überraschung: »Du bist noch zu jung«, sagte Lukas im Laufe dieses Nachmittags. »In zwei, drei Jahren ist es richtig.«
Er hatte recht. So vernünftig waren also die deutschen Jungs! Und so war es möglich, dass sich zwischen uns eine unglaublich schöne Freundschaft entwickelte, die sogar Kreise zog.
Über Lukas lernte ich ein Mädchen kennen, das zu einer meiner wichtigsten Freundinnen werden sollte, Rhea. Ich werde nie vergessen, wie wir das erste Mal telefonierten. Ich stellte Rhea dieselbe Frage wie Lukas bei unserem ersten heimlichen Treffen. »Rauchst du?«
Und ihre Antwort war: »Mein Kind, ich rauche.«
Rhea hatte rotes Haar und schminkte sich stets mit ganz hellem Make-up, sodass ihre Haut fast weiß wie Porzellan wirkte. Das tat sie, weil sie immer so schnell errötete. Ihre Augen betonte sie mit Kajal. Und mir war all das verboten: Ich durfte mir weder die Augenbrauen auszupfen, die so stark in der Mitte zusammenwuchsen wie bei meinem Vater, noch das dunkle, feine Bärtchen entfernen, das zu meiner Verzweiflung über meiner Oberlippe spross. Natürlich durfte ich mich auch nicht schminken, seit der Geschichte mit dem Rosenparfüm war alles Duftende tabu, nicht einmal ein Deodorant war mir erlaubt. Eines Tages, als ich versuchte, mit meinem Vater ein paar Lockerungen in dieser Hinsicht auszuhandeln, wies er mich an, meine Tanten anzurufen und sie zu fragen, wie ihre Töchter das handhabten. Unter Tränen telefonierte ich also mit Tante Suheila und Tante Amina und bat sie, bei meinem Vater ein gutes Wort für mich einzulegen, dass er mir wenigstens erlaubte, ein Deo zu benutzen. Erst vor Kurzem haben sie mir gestanden, wie leid ich ihnen damals tat, denn selbstverständlich durften meine Cousinen all das tun, was mir verboten war, doch wollten meine Tanten ihrem ältesten Bruder nicht in den Rücken fallen – kannten sie seinen Zorn doch nur zu gut und hatten selbst Angst, zur Zielscheibe zu werden.
Rhea aber akzeptierte mich so, wie ich war. Sie war der einzige Mensch, dem ich Einblick in das Drama gab, das sich in unserer Familie abspielte, wenn niemand zusah. Ich erzählte ihr alles, und sie wurde für mich zu meinem größten und wichtigsten Halt.
Rhea hatte ihre festen Prinzipien, und das liebte ich an ihr. Obwohl auch sie erst vierzehn war, so war Rhea doch irgendwie erwachsener und selbstständiger als jede andere meiner Freundinnen. Und zu meiner großen Überraschung akzeptierte auch mein Vater Rhea und hielt große Stücke auf sie.
Es begann eigentlich mit einer riesigen Enttäuschung für mich: Mein Vater hatte die Angewohnheit, alle meine Freundinnen einer Art Test zu unterziehen. Das machte er sehr raffiniert, er bat
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