Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Institution mich mehr aufnehmen wollte. Ich hatte nicht geahnt, dass man beim Jugendamt in Kategorien abrutschen kann; ich jedenfalls war in der untersten gelandet.
Als »letzte Chance« bot man mir einen Gesprächstermin an, und ich hoffte inständig, dass sie dieses Mal einen vernünftigen Vorschlag für mich hatten.
Als ich an jenem Tag aus der Schule kam, stand der Wagen meines Vaters davor. Er stieg aus und kam mit theatralisch ausgebreiteten Armen auf mich zu.
»Nun haben wir nur noch uns beide!«, schluchzte er.
Erschrocken bemerkte ich, dass er weinte.
»Was ist denn los?«, fragte ich und wich seiner Umarmung aus.
»Deine Mutter ist tot!«
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff. Er meinte nicht Elke, sondern meine richtige Mutter, Saliha. Sie war also tot? Ein Wechselbad von undefinierbaren Gefühlen überspülte mich. War es Trauer? Nein, ich war nicht traurig. Ich kannte sie ja überhaupt nicht. Eher ein Bedauern, ein Schock, dass ich sie nie kennengelernt hatte. Und nun war es zu spät. Ich beobachtete befremdet, wie mein Vater weinte. Er hatte immer nur schlecht von ihr gesprochen. Kein einziges gutes Wort über Saliha war je über seine Lippen gekommen. Umso schwerer fiel es mir, ihm jetzt seine Trauer abzunehmen.
»Lass uns den Tag gemeinsam verbringen«, schlug mein Vater vor und schnäuzte sich.
Ich lehnte ab. Schließlich musste ich zu dem Termin beim Jugendamt. Doch ich war ganz durcheinander, und während ich mich auf den Weg zu diesem wichtigen Termin machte, musste ich dauernd an meine Mutter denken, die ich nie kennengelernt hatte. Erst nach vielen Stationen bemerkte ich, dass ich die falsche Regionalbahn genommen hatte. Am Ende kam ich eine Stunde zu spät zu dem Gespräch und hatte bereits alle Hoffnung fahren lassen. »Damit«, dachte ich, »habe ich mir garantiert meine letzte Chance vermasselt.«
Doch die Sozialarbeiterin, Frau Schilling, hatte auf mich gewartet. Sie war es, die entscheiden würde, ob sie meine neue Betreuerin werden wollte, trotz all der Dinge, die in meiner Akte standen.
Zuerst entschuldigte ich mich für mein Zuspätkommen. »Ich habe eben erfahren«, erklärte ich ihr, »dass meine Mutter gestorben ist. Ich bin noch ganz durcheinander …«
Vom ersten Moment an verstand ich mich mit Frau Schilling. Sie war die Erste, die zuhörte, mich erzählen ließ und interessiert Fragen stellte. Und so begriff sie sofort, dass ich intensive Hilfe benötigte, eine Menge Redebedarf hatte und eine Hand brauchte, die mir half.
Sie erkannte auch, dass es für mich nicht gut war, so weit von meinen Freunden entfernt zu wohnen, und so zog ich wieder nach Mönchengladbach. Das Jugendamt wies mir hier eine unglaublich schreckliche Wohnung zu, und als Frau Schilling sah, dass ich das Beste aus ihr gemacht hatte, lobte sie mich.
»Du machst das toll«, sagte sie.
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann jemand das letzte Mal so etwas zu mir gesagt hatte.
»Doch«, lachte sie, »du kriegst das hin, davon bin ich überzeugt. Und jetzt sehen wir erst einmal weiter.«
Was mir an ihr gefiel, das war ihr Pragmatismus. Wenn sie mich besuchen kam, um nachzusehen, dass meine Wohnung nicht vermüllte, ich nicht vom Fleische fiel und ansonsten auch alles in Ordnung war, dann brachte sie mir nicht nur manchmal Zigaretten mit (»Meral, ob ich dir jetzt Geld gebe und du kaufst dir davon Zigaretten, oder ob ich dir gleich welche mitbringe, das läuft doch aufs Gleiche raus, oder?«), sondern jedes Mal auch Zeit. Wir saßen in meiner winzigen Bude und redeten. So fasste ich immer mehr Vertrauen zu ihr. Einmal erzählte ich ihr von einem Selbstmordversuch. Ich hatte mir ein Bad eingelassen, Kerzen angezündet und dann den Radiowecker zu mir ins Wasser gezogen. Ich erwartete zu sterben, doch stattdessen gingen plötzlich überall die Lichter aus – die Sicherungen im ganzen Haus waren rausgeflogen. Ja, damals habe ich nicht schlecht gestaunt, denn früher ging das ja, heutzutage gibt es aber diese Sicherungen, die den Stromtod in der eigenen Badewanne verhindern. Was für eine Enttäuschung! Kurz darauf klingelte die Nachbarin von unten. Ich kletterte aus der Badewanne, zog mir einen Bademantel über und öffnete. Und statt endlich von allem erlöst zu sein, stiefelte ich gemeinsam mit der Nachbarin in den Keller, um die Sicherungen wieder reinzudrücken.
Frau Schilling lachte sich erst halb tot. Dann fragte sie: »Sag mal, wie spät war es denn
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