Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
da?«
»Drei Uhr nachts.«
»Meral«, sagte Frau Schilling, so als würde sie mir erklären, wie man einen Kuchen richtig bäckt, »um drei Uhr nachts schläft man. Wenn du wieder mal solche Ideen hast, wartest du bis zum nächsten Morgen. Dann überlegst du es dir nochmal. Und wenn du morgens aufwachst und immer noch sterben willst …«
Aber mir war schon klar, dass einem bei Tage so etwas nicht mehr ganz so leichtfällt. Und ich nahm diesen Rat an: Bis heute treffe ich mitten in der Nacht keine wichtigen Entscheidungen mehr. Ich denke an Frau Schilling und höre sie sagen: »Alles Wichtige sollte man eine Nacht überschlafen.«
Es war alles andere als einfach für mich, doch mit ihrer Hilfe vollzog sich für mich eine ganz allmähliche positive Veränderung. Ich gewöhnte mir sogar meine krasse Sprache ab und begann »schön zu sprechen«, denn ich begriff, dass Worte Macht haben und man kein ausgeglichener Mensch werden kann, wenn man ständig die übelsten Ausdrücke benutzt. Ich liebe die deutsche Sprache und lernte sie immer mehr lieben.
Mit meinem Schulbesuch hatte es die vergangenen Monate nicht zum Besten gestanden, und nachdem wir uns ausgiebig darüber beraten hatten, meldete Frau Schilling mich bei der Abendschule an, wo ich auch meinen Schulabschluss machen konnte. Tagsüber arbeitete ich im Café, und abends ging ich zur Schule. Eine positive Nebenwirkung meines Intermezzos in der geschlossenen Psychiatrie war, dass ich von den verschiedenen Partydrogen, die ich hin und wieder konsumiert hatte, losgekommen war. Unter Frau Schillings liebevoller, unaufgeregter Begleitung wurde ich ruhiger und fasste Zuversicht.
Die Wohnung allerdings war die reinste Bruchbude, das Bett einen Schritt vom Herd entfernt, und im Grunde sah das ganze Haus aus wie ein Stundenhotel, was es wohl auch einmal gewesen war. Inzwischen hatte man es in lauter Miniapartments umgewandelt, im Erdgeschoss war ein Restaurant. Meine Nachbarn waren Schwerverbrecher, Drogendealer, die erst vor Kurzem aus dem Knast gekommen waren. Freimütig erzählten die mir, dass sie den Jungen, der da eigentlich wohnen sollte, herausgeprügelt hatten und seine Wohnung samt Telefonvertrag übernommen hatten. Wenn ich daran dachte, dass ich bedeutend schlechter lebte als mein Vater, der in einem tollen Haus wohnte und von seiner Familie unterstützt wurde, dann wurde mir ganz schlecht. Tagsüber besuchten ihn abwechselnd meine Tanten, um für ihn zu kochen. Und mich behandelte man wie eine Verbrecherin.
Da saß ich also, als Mitbewohner hatte ich Kakerlaken, und ständig wurden im ganzen Haus die Türen eingetreten. Mir war klar, dass das meine Nachbarn waren, und mit der Zeit entwickelte ich meine ganz eigene Strategie, mit diesen schweren Jungs umzugehen. Wenn ich ein paar Tage wegfahren musste, dann ging ich rüber zu ihnen und sagte: »Hey, habt ihr das auch schon bemerkt? In diesem Haus gibt es ein paar Typen, die treten überall die Türen ein und räumen die Wohnungen aus. Ihr zwei seid die Einzigen, denen ich vertraue. Und ihr passt doch sicher auf, dass das bei mir nicht passiert, oder?«
Da reagierten die beiden ganz süß: »Ja, Meral, wir passen schon auf.«
Und tatsächlich ist bei mir nie etwas passiert.
Einmal jedoch schob Frau Schilling in meiner Abwesenheit mein Wochengeld, 50 Mark, in einem Umschlag unter der Tür hindurch, und als ich wiederkam, war da nur noch der leere Umschlag. Ich wusste genau, wer das gewesen war. Also klingelte ich bei den Jungs.
»Ach«, sagte ich und heulte ein bisschen, »ist das ein Scheißtag! Stellt euch vor, mir hat doch tatsächlich einer das einzige bisschen Geld geklaut, das ich habe! Jetzt weiß ich überhaupt nicht, wie ich überleben soll …« Und ich spielte die Verzweifelte.
Von da an fand ich jedes Mal, wenn mich einer von den beiden besuchen kam, ein bisschen Geld auf dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, mal eine Mark, mal zwei, bis sie mir nach Monaten schließlich alles zurückgegeben hatten.
Irgendwann sagte Frau Schilling: »Das geht so nicht mehr weiter. Meral, was für eine Wohnung hättest du denn gern?«
»Ach«, sagte ich, »mehr Platz wäre toll. Und ein Garten … Aber so etwas gibt es doch sowieso nicht für mich.«
»Warum nicht?«, fragte sie.
Ein paar Wochen später hatte sie tatsächlich eine solche Wohnung für mich gefunden. Ich war überglücklich! Vor Kurzem hatte ich meinen ersten richtigen Freund kennengelernt, Norman, mit dem ich heute noch befreundet bin.
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