Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Mit ihm erlebte ich eine wundervolle Romanze, er holte mich mit dem Auto abends von der Schule ab, lud mich zum Essen ein, am Wochenende machten wir Ausflüge miteinander. Und Norman half mir nun, meinen Krempel zusammenzupacken und in die neue Wohnung in der Volksgartenstraße einzuziehen.
Als Frau Schilling mich das erste Mal nach dem Umzug besuchte und sah, wie schön ich die Wohnung eingerichtet hatte, sagte sie: »Das hast du richtig toll gemacht, Meral.«
Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das freute. Frau Schilling sagte oft solche Sachen. Zum Beispiel: »Du bist ein richtig vernünftiges Mädchen, Meral.«
»Ich?«, fragte ich erstaunt. »Vernünftig?«
»Ja«, sagte sie. »Du machst das alles ganz super. Du schaffst das. Da bin ich mir völlig sicher.«
Dass sie an mich glaubte, veränderte mein Leben. Nach dem Umzug fuhren Norman und ich zusammen in Urlaub nach Südfrankreich. Obwohl ich noch keine achtzehn war, erlaubte Frau Schilling es mir. Es war herrlich. Seit jenem Urlaub in der Türkei, als mein Vater mich umbringen wollte, war ich nicht mehr weg gewesen. Nun verbrachte ich zum ersten Mal in meinem Leben unbeschwerte Wochen. Und obwohl mir das wohl keiner geglaubt hätte und mein Vater schon vor Jahren überzeugt davon gewesen war, dass ich keine Jungfrau mehr war, erlebte ich mit Norman in diesem Sommer mein allererstes Mal.
19
Die Anzeige
N ach der Sache mit Behzad hatte ich mir vorgenommen, irgendwann meinem Vater Einhalt zu gebieten. Ich wollte ja wirklich nur endlich in Frieden leben. Doch noch immer drängte sich mein Vater herein, trotz des Kontaktverbots. Er stand auf der anderen Straßenseite, wenn ich das Haus verließ, wartete in seinem Wagen vor meiner Schule. Oft rief er an. Und das ging mir gewaltig an die Nerven, denn ich wusste nie, was als Nächstes passieren würde. Manchmal wollte er einfach nur reden, dann wieder versuchte er mich zu überreden, zu ihm zurückzukommen. Eigentlich durfte er mir ja seit mehr als einem Jahr nicht mehr näher kommen als fünfhundert Meter. Doch er hielt sich nur selten daran. Und immer lauerten hinter allem seine Drohungen, mich eines Tages umzubringen, wenn ich nicht tat, was er wollte.
So kam es, dass ich es vermied, die Wohnung zu verlassen. Das tat ich nur noch, wenn es wirklich nötig war. Statt ein normales Leben zu führen, mich mit Freunden zu treffen, einkaufen oder ins Kino zu gehen, igelte ich mich zu Hause ein. Kaum verließ ich das Haus, befiel mich wieder diese undefinierbare Todesangst, ich reagierte schreckhaft auf jedes kleinste Geräusch. Und wenn ich auch nur in der Ferne einen Schwarzkopf entdeckte, der meinem Vater und seinen Brüdern irgendwie ähnelte, bekam ich Schweißausbrüche.
Frau Schilling bemerkte schon in den ersten Wochen unserer Zusammenarbeit, dass es Tage gab, an denen ich schrecklich durch den Wind war.
»Was ist los, Meral?«, fragte sie dann.
Und ich erzählte ihr kurz, was geschehen war, dass mein Vater wieder mitten in der Nacht angerufen und mich stundenlang wachgehalten hatte, sodass ich am Morgen wie gerädert war. Oder dass er mir aufgelauert hatte. Allmählich begriff sie, dass ich nicht einfach nur ein Trennungskind mit den üblichen Problemen war, wie es im Bericht des Jugendamts stand, sondern dass mehr dahintersteckte. Sie stellte Fragen, hörte aufmerksam zu. So erfuhr sie, dass es hier um Kindesmisshandlung, Belästigung und ein paar weitere strafbare Handlungen ging. Oft traf sie mich bei ihren Besuchen wie ein verschrecktes Tierchen an, das nicht wagt, den Bau zu verlassen. Und irgendwann sagte sie: »So geht das nicht weiter.«
Einen solchen Fall wie mich hatte Frau Schilling noch nie betreut. Die anderen Mädchen kamen meist aus guten Familien, wo es Probleme gegeben hatte, und nach ein paar Wochen oder Monaten im Betreuten Wohnen kehrten sie wieder nach Hause zurück. Manche waren schwanger und heirateten oder fanden sonst einen Weg, sich mit ihren Familien auszusöhnen. Insofern war meine Geschichte absolutes Neuland auch für sie. Doch das war kein Grund für Frau Schilling, sich lieber zurückzuhalten.
»Weißt du eigentlich«, sagte sie eines Tages, »dass du deinen Vater anzeigen kannst?«
Für Frau Schilling waren die Dinge immer eindeutig. Schwierigkeiten und Probleme waren für sie »Phasen«, die vorüberzugehen hatten, wie zum Beispiel meine Drogenerfahrungen. Nachdem ich Vertrauen zu ihr gefasst hatte, erzählte ich ihr auch davon, vielleicht um zu sehen, wie sie
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