Nicht ohne meinen Mops
gegenüber schweifen. Nur noch in zwei Fenstern ist Licht. Hinter dem einen scheint ein schlafloser Rentner zu leben, hinter dem anderen ein kleiner Junge, der wohl Angst im Dunkeln hat. Frau Stiller hat ihre Tiraden aufgegeben. Ich vermute, sie hat das Hörgerät ausgeschaltet und liegt seit zwei Stunden im Bettchen.
»Ich sollte mich langsam mal hinlegen.« Chris gähnt. »Sonst verkaufe ich den Kunden im Callcenter morgen nur Matratzen oder Bettwäsche.«
Chris’ Gähnen steckt an. Ich renke mir beinahe den Kiefer aus. »Rolf, lass doch die Flasche zu, wir sollten langsam schlafen gehen«, rufe ich in die Küche. In dem Moment gibt es einen lauten Knall. Gleich darauf kreischt Rolf. Chris und ich springen auf. Rolf steht mit kreidebleichem Gesicht vor dem Kühlschrank. Seine Hose ist mit Prosecco bespritzt. Zu seinen Füßen liegen die Flaschenscherben – und Earl. Der Mops zuckt und hechelt. Seine Stummelbeinchen verkrampfen sich und die rosa Zunge hängt aus dem Maul. Die Augen scheinen dem Mops aus den Höhlen zu treten.
»Mach was! Tanja, mach was!« Rolf zittert am ganzen Körper. »Du bist doch Krankenschwester!«
Ich verkneife mir, ihm den Unterschied zwischen Arzthelferin und Krankenschwester zu erklären oder den zwischen Human- und Tiermedizin. Ich falle auf die Knie und ziehe Earl vorsichtig aus der Gefahrenzone, sprich weg von den Scherben.
»Hat er einen Infarkt?« Chris heult leise.
Earl zieht eine Spur aus Speichel, Kot und Urin hinter sich her. Ich kenne das noch aus der Landarztpraxis – dort hatten wir einen jungen Mann, der seit der Pubertät an epileptischen Anfällen litt.
»Nein, nein«, rufe ich. »Das ist ein Anfall. Epilepsie!«
Rolf heult wie ein Schlossgespenst und hastet aus der Küche. »Das kann ich nicht mit ansehen!« Er reißt die Wohnungstür auf.
Ich schubse Chris zur Seite, der sich neben Earl auf den Boden kniet und ihm den Kopf halten will.
»Finger weg, der kann jetzt aus Versehen übel beißen«, befehle ich. Meine Knie und Hände zittern. Earl ist ein Häufchen Elend. Jappst nach Luft und krümmt alle Glieder. Aus angsterfüllten Augen starrt er mich an. Im Hausgang höre ich Rolf heulen – und die Stimme eines Mannes. Kurz darauf fällt ein Schatten in die Küche.
»Hol mal eine Decke«, sagt der Schattenmann zu Chris und kniet sich neben mich. Chris saust los und kommt Sekunden später mit Rolfs Alpaka-Decke vom Sofa wieder.
Vorsichtig legt Schattenmann die Decke über den Hund. Dann setzt er sich, an die Spüle gelehnt.
»Ein epileptischer Anfall, nehme ich an«, sage ich, um irgendetwas zu sagen. Die Decke saugt sich mit Earls Exkrementen voll. Die ist ruiniert, denke ich. Rolf erscheint im Flur und presst die Faust vor den Mund.
»Oh Gott, oh Gott«, jammert er.
»Gut erkannt, Epilepsie«, sagt der Schattenmann. Earls Krämpfe lassen langsam nach. »Ich bin übrigens Arne«, sagt Arne.
»Hallo, Arne«, sage ich.
»Hallo Arne«, sagt Chris.
»Hi«, jammert Rolf.
»Ich wohne nebenan«, sagt Arne. »Wir haben uns noch nie gesehen.«
Das also ist unser mysteriöser Nachbar. Während Earl sich mehr und mehr entspannt, begutachte ich den Schattenmann. Die schwarzen Haare sind kurz geschnitten und beginnen sich an den Geheimratsecken zu lichten. Das kantige Kinn ist übersät von Barstoppeln. Unter den langen Wimpern, um die ich ihn aufrichtig beneide, blitzen schwarze Augen. Das alles passt so gar nicht zu den Bärchen auf dem Fußabtreter.
Earl seufzt und heult kurz auf. Und dann liegt er da. Totenstill. Regungslos.
»Oh mein Gott!« Rolf stürzt zum Mops. »Er atmet nicht mehr!«
Arne beugt sich vor und streicht Earl über den Kopf. »Doch, dem geht’s wieder gut. Ich nehme an, er schläft jetzt ein paar Stunden wie im Koma.« Arne rappelt sich auf. »Moment mal«, sagt er und kommt gleich darauf mit einer schwarzen eckigen Tasche wieder. Er lässt die Schnallen knacken.
»Du bist Arzt«, sage ich, als ich den Notfallkoffer erkenne.
»Tierarzt«, sagt Arne und drückt mir eine in Folie verpackte Einwegspritze in die Hand. Mechanisch reiße ich die Folie auf und greife nach der Kodantinktur und einem Mullstückchen. Arne sieht mich an … irgendwie – anerkennend? Sein Blick geht mir durch und durch und beinahe hätte ich die Spritze fallen lassen.
»Am rechten Vorderbein bitte, Wadenhöhe«, sagt Arne. Ich gebe ihm die Spitze, und während er eine Flüssigkeit aus einem winzigen Gläschen aufzieht, sprühe ich Earls Bein großflächig ein
Weitere Kostenlose Bücher