Nicht ohne Risiko (German Edition)
hatte versucht, sich selbst abzulenken, hatte den Sonnenaufgang beobachtet. Der Himmel in der Morgendämmerung war dunstig und leuchtete rot. Wie lautete noch die alte Bauernregel? Morgenrot, Schlechtwetter droht. Es würde wieder brüllend heiß werden bei hoher Luftfeuchtigkeit, sodass die Schwüle des Tages sich am späten Nachmittag in heftigen Gewittern entladen würde. Aber die Gewitter wuschen immer nur kurzfristig die klebrige Feuchtigkeit aus der Luft. Noch bevor es aufhörte zu regnen, verdampfte das Wasser schon wieder und ließ es erneut drückend schwül werden.
Aber so war das nun mal. Jammern half nichts. Er lebte schließlich in Florida, und es war Sommer. Dazu gehörten Hitze und Schwüle. Und er hatte es sich selbst ausgesucht. Er hatte selbst entschieden, die New Yorker Polizei zu verlassen. Dabei hätte er ebenso gut im Norden bleiben können. Sein Chef hätte sich darüber gefreut. Selbst als Berufsanfänger war Jim schon gut in dem gewesen, was er tat.
Trotzdem hatte er fortgehen müssen. New York hatte ihn schon viel zu viel gekostet, vor allem hatte es ein gewaltiges Stück aus seiner Seele gerissen. Seine einzige Hoffnung auf Heilung hatte darin bestanden, Fersengeld zu geben und aus der Stadt zu verschwinden.
Was war dann passiert? Er war nach Tampa gezogen. Nicht wirklich geheilt, aber doch immerhin funktions- und arbeitsfähig. Und dann, nach nur wenigen Monaten im neuen Job,war er eines Morgens aufgewacht und hatte festgestellt: Jetzt fehlte ihm ein Stück seines Herzens.
Ein Stück? Ach was. Das ganze verdammte Ding. Emily hatte ihm das ganze verdammte Ding gestohlen. Er hatte geglaubt, es zurückgewonnen zu haben, aber letzte Nacht hatte er feststellen müssen, dass er sich irrte. Es gehörte Emily nach all den Jahren immer noch. Nichts hatte sich verändert. Er liebte sie und würde das wahrscheinlich in alle Ewigkeit tun.
Sie war älter geworden. Sie waren beide älter geworden. Weiß Gott, er war in den letzten sieben Jahren erwachsen geworden, hatte verarbeitet, wer er war und was er getan hatte. Oh ja, er hatte sogar ein bisschen von dem zurückgewonnen, was seiner Seele entrissen worden war. Geflickt und vernarbt, wie sie jetzt war, bot sie keinen schönen Anblick, aber ihm war klar geworden, dass er kein so schlechter Mensch war, wie er sich eingeredet hatte.
Nein, er war nicht so schlecht. Aber war er trotzdem gut genug für Emily?
Er war Polizist. Er wusste, welches Risiko er Tag für Tag einging, wenn er seine Arbeit antrat. Seine Welt und die Menschen, die darin lebten, waren brutal und hässlich. Und manchmal musste er genauso brutal und hässlich sein, um die bösen Jungs zu schnappen. Mehr als einmal hatte er schon die Waffe auf einen Menschen gerichtet und abgedrückt – und sich damit auf ihr verachtenswertes Niveau hinabbegeben.
Nein, er war nicht das Ungeheuer, für das er sich gehalten hatte, aber ein Heiliger war er auch nicht.
Die Sonne stieg über den Horizont und gewann an Kraft. Jim erhob sich von der Couch und ging in die Küche, um die nächste Kanne Kaffee aufzubrühen.
Es spielte keine Rolle, ob Emily einen besseren Mann verdiente als ihn. Sie mochte ihn nicht. Er konnte nicht viel dafür tun, ihre Zuneigung wiederzugewinnen – geschweige dennihre Liebe. Er war sich ja nicht einmal sicher, ob er das wollte.
Aber eins stand fest: Er musste ihr die Wahrheit sagen. Er musste ihr sagen, warum er sie verletzt hatte, warum er sie vor so vielen Jahren hatte sitzen lassen. Vielleicht würde sie ihm nicht glauben. Vielleicht aber doch. Vielleicht würde sie ihn wenigstens verstehen und ihm vergeben.
Und vielleicht würde ihm das schon reichen.
Emily erwachte um halb elf – und fühlte sich immer noch wie erschossen.
Sie lag im Bett und lauschte auf die Geräusche aus dem Wohnzimmer, die ihr verraten würden, dass Jim wach war. Sie hörte nichts, glaubte aber nicht, dass er noch schlief. Er schlief nie länger als bis acht.
Als ihr wieder einfiel, wie er sie in der Nacht zuvor in den Armen gehalten und geweint hatte, erschauerte sie.
Dass sie unbemerkt aus dem Restaurant verschwunden war, hatte ihn offenbar zutiefst erschreckt. Auf jeden Fall traf es ihn härter, als sie sich hätte vorstellen können. Aber wenn sie darüber nachdachte, ergaben seine emotionale Reaktion, sein Zorn und seine Aufregung durchaus Sinn. Man hatte ihm die Aufgabe übertragen, sie zu beschützen. Für ihre Sicherheit trug er die Verantwortung. Ohne eigene Schuld hatte er
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