Nicht tot genug 14
und Grace wurde klar, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Sie goss sich Tee ein und fügte mit einer silbernen Zange zwei Stück Zucker hinzu. »Warum genau interessieren Sie sich für Richard?«, fragte sie argwöhnisch.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, wo ich ihn finde. Ich muss dringend mit ihm sprechen.«
»Mit ihm sprechen?«, fragte sie erstaunt.
»Reihe 12, Platz 437«, meldete sich der alte Mann unvermittelt.
»Derek!«, mahnte sie ihn.
»Da ist er doch. Stell dich nicht so an, Frau.«
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie und nahm die Tasse mit geziertem Griff. »Er ist nie wirklich darüber hinweggekommen. Keiner von uns.«
»Worüber ist er nie hinweggekommen?«, hakte Grace in sanftem Ton nach.
»Er war eine Frühgeburt, genau wie sein Bruder. Seine Lungen waren unterentwickelt, und das hat sich auch nie ganz gelegt. Er blieb immer schwach auf der Brust. War als Kind ständig krank. Und vor allem hatte er richtig schlimmes Asthma.« »Was wissen Sie über seinen Bruder?« Grace war so gespannt, dass er gar nicht mehr an seinen Schokoriegel dachte.
»Er ist noch im Brutkasten gestorben, der arme kleine Kerl. Das hat man uns jedenfalls gesagt.«
»Was war mit der Mutter?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Es war sehr schwer, vom Sozialamt überhaupt etwas zu erfahren.«
»Bitte erzählen Sie mir, was Sie wissen.«
»Wir haben lange gebraucht um herauszufinden, dass sie eine ledige Mutter war. Damals war das noch eine schlimme Sache. Sie starb bei einem Autounfall, aber die Einzelheiten haben wir nie erfahren.«
»Sind Sie sicher, dass Fredericks, ich meine natürlich Richards, Bruder gestorben ist?«
»Beim Sozialamt kann man sich nie sicher sein. Aber man hat es uns so erzählt.«
Grace nickte mitfühlend. »Können Sie mir sagen, wo ich Ihren Sohn Richard finde?«
»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt«, knurrte der alte Mann vom Sessel herüber. »Reihe 12, Platz 437. Sie geht jedes Jahr hin.«
»Tut mir leid, ich verstehe nicht ganz.«
»Mein Mann will sagen, dass Sie zwanzig Jahre zu spät gekommen sind«, sagte die Frau.
»Zu spät?«
»Richard ist mit einundzwanzig auf eine Party gegangen und hat vergessen, seinen Inhalator mitzunehmen. Den musste er immer bei sich haben. An dem Abend hatte er einen besonders schlimmen Asthmaanfall.« Ihr versagte die Stimme. Sie schniefte und wischte sich die Augen. »Sein Herz hat versagt.«
Grace schaute sie fassungslos an.
»Mein armer Junge ist gestorben. Dabei hatte er noch gar nicht richtig gelebt«, erklärte Joan Tripwell mit großem Nachdruck.
112
NACH EINER STUNDE kam ein sehr niedergeschlagener Roy Grace in die Soko-Zentrale 1 und berichtete dem Team der Operation Chamäleon, was er in Guildford herausgefunden hatte. Danach überprüfte er noch einmal alle Beweise, die gegen Brian Bishop vorlagen.
Da er davon überzeugt war, dass Joan Tripwell die Wahrheit sagte, passten einige Punkte einfach nicht mehr zusammen. Es war, als versuchte er ein Puzzle zusammenzusetzen, dessen Teile fast, aber nicht ganz, die richtige Form hatten.
Da waren zum Beispiel die Angaben zur Geburt der Zwillinge, die ihm der leitende Standesbeamte vorgelesen hatte. Er ging noch einmal seine Notizen aus dem Rathaus durch und glich sie mit Bishops Geburtsurkunde und der Adoptionsurkunde ab. Er war eindeutig am 7. September um 3.47 Uhr geboren, achtzehn Minuten vor seinem Bruder Frederick Roger Jones, der in Richard umbenannt worden und mit einundzwanzig Jahren gestorben war.
Aber warum hatte das Sozialamt Joan Tripwell gesagt, der andere Zwilling sei gestorben?
Er rief noch einmal die hilfsbereite Adoptionsberaterin an, die ihm erklärte, dass ein solches Vorgehen in damaliger Zeit nicht ungewöhnlich gewesen sei. Man trennte Zwillinge zwar ungern, doch es gab eine lange Liste von Adoptionsbewerbern. Falls ein Kind krank und lange Zeit im Inkubator gewesen war, sei es durchaus denkbar, dass man zunächst das gesunde Kind zur Adoption freigegeben und später zu einer Notlüge gegriffen habe, um einem anderen Paar, das sich verzweifelt nach einem Kind sehnte, die Adoption zu ermöglichen.
Bei ihr selbst sei es ebenso gelaufen, fügte Loretta Laberknight hinzu. Sie sei ein Zwilling, was ihre Adoptiveltern jedoch nie erfahren hätten.
Danach überprüfte er noch einmal die Aufnahmen der Überwachungskameras und glich sie mit dem Handyprotokoll ab, das DC Corbin erstellt hatte. Der Mann auf dem Bildschirm war eindeutig Brian Bishop,
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