Nicht tot genug 14
versuchte es zu Hause. Der Anrufbeantworter.
»Ach, da bissu ja! Hatte dich schon vermisst!« Seine scharfen Zähne glitzerten dämonisch. »Bissen frische Luft sch-schnappen?«
»Ja, aber jetzt reicht es«, sagte sie und stürzte sich wieder ins Gedränge. Sie machte sich Sorgen, denn Sophie war normalerweise sehr zuverlässig. Es passte einfach nicht zu ihr.
Andererseits würde sie sich aber auch nicht den Spaß verderben lassen.
54
DAS FLUGZEUG STARTETE mit einer halben Stunde Verspätung, weil es ein Problem mit der Tür des Gepäckraums gab. Roy Grace verbrachte den gesamten Flug aufrecht in seinem Sitz und starrte aus dem Fenster auf die Nieten im grauen Metall der Tragfläche.
Zwei endlose Stunden konnte er sich auf gar nichts konzentrieren und vertrieb sich die Zeit damit, den Stadtplan von München zu studieren. Auf seinem Tablett lag die Verpackung des unappetitlichen Käsebrötchens, das er aus purer Verzweiflung gegessen hatte, und daneben stand ein Becher mit den Resten des zweiten bitteren Kaffees, den er hinuntergewürgt hatte. Die Sachen wackelten, als das Flugzeug durch die Wolken stieß und zum Landeanflug ansetzte.
Er merkte kaum, wie die Stewardess die Reste seines Frühstücks abräumte, und betrachtete die Landschaft, die unter ihm allmählich Gestalt annahm.
Er hatte Schmetterlinge im Bauch, als er jetzt zum ersten Mal Deutschland unter sich erblickte. Ein Schachbrettmuster aus braunen, gelben und grünen Feldern, das sich scheinbar bis zum Horizont erstreckte. Kleine Gruppen weißer Häuser mit roten und braunen Dächern, Wälder in einem so lebhaften Grün, dass sie wie gemalt aussahen. Eine Kleinstadt. Weitere Häusergruppen und größere Gebäude.
Allmählich überkam ihn Panik. Würde er Sandy überhaupt erkennen? Manchmal konnte er sich gar nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, als würde die Zeit sie allmählich aus seinem Gedächtnis löschen.
Und selbst, wenn sie dort unten war, irgendwo in diesem großen Land, wie sollte er sie finden? In dieser Stadt, die er noch gar nicht sehen konnte? Oder lebte sie in einem der entlegenen Dörfer, über die sie gerade hinwegflogen? Hatte Sandy sich irgendwo dort unten ein neues Leben aufgebaut? War sie eine unauffällige deutsche Hausfrau geworden, die ihre Vergangenheit für sich behielt?
Wieder tauchte die Stewardess auf und klappte jetzt das graue Tischchen hoch. Sie flogen schon sehr viel tiefer, die Gebäude wurden immer größer. Er konnte die Autos auf den Straßen ausmachen. Der Pilot wies die Kabinencrew an, ihre Plätze einzunehmen.
Dann bedankte er sich bei den Passagieren, dass sie mit British Airways geflogen waren, und wünschte ihnen einen angenehmen Aufenthalt in München. Der Stadt, die für Grace bislang nur ein Name auf einer Landkarte gewesen war. Ein Name in der Zeitung, in Fernsehberichten oder im Geschichtsunterricht in der Schule. Es war die Stadt, in der Sandys entfernte Verwandte wohnten, denen sie nie begegnet war.
Es war die Stadt, in der 1958 die halbe Mannschaft von Manchester United bei einem Flugzeugunglück auf einer schneebedeckten Landebahn umgekommen war. Die Stadt, in der die Olympischen Spiele 1972 von arabischen Terroristen entweiht wurden, die elf israelische Sportler töteten.
Das Flugzeug setzte hart auf, und er spürte, wie der Gurt in seinen Bauch schnitt, als die Maschine bremste und die Motoren im Rückwärtsgang aufheulten. Dann rollte sie sanft über die Landebahn. Es gab eine Meldung für die Passagiere mit Anschlussflügen. Und Roy Grace fühlte sich, als drängten die Schmetterlinge aus seinem Magen in seine Kehle.
Der Mann neben ihm schaltete sein Handy ein. Grace tat es ihm nach und schaute aufs Display, weil er auf eine Nachricht von Cleo hoffte. Um ihn herum piepste es. Und dann auch bei ihm. Sein Herz machte einen Sprung. Aber nein, es war nur eine Servicenachricht des deutschen Mobilfunkanbieters.
Er war nachts mehrfach aufgewacht, hatte dann schlaflos dagelegen und sich gefragt, was er anziehen sollte. Einfach lächerlich, denn in seinem Herzen ahnte er, dass er Sandy an diesem Tag nicht begegnen würde, selbst wenn sie irgendwo in München war. Dennoch wollte er so gut wie möglich aussehen, nur für den Fall … Er wollte so aussehen und riechen, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hatte ihm ein Eau de Cologne von Bulgari geschenkt, das er die ganzen Jahre über aufbewahrt hatte. Am Morgen hatte er seit langer Zeit wieder etwas davon aufgetupft. Er trug eine dünne
Weitere Kostenlose Bücher