Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
jemand abgenommen.
KAPITEL ZEHN
Die zertanzten Schuhe
In dem es für meine Mutter selbstverständlich ist, an sich zu sparen, damit ich – ganz nach bürgerlichem Ideal – Klarinette lernen und zum Ballett gehen kann.
Als ich in der ersten Klasse war, habe ich es im Fernsehen gesehen, damals hatten wir einen großen Schwarzweißfernseher. Und ich wusste sofort, dass ich genau das werden wollte: Balletttänzerin. Diese Anspannung des Körpers, die hohen Sprünge, die Kostüme. Ich wusste: Ich kann das. Die endlosen Drehungen – ein Klacks. Als lägen sie mir im Blut. Und ich bildete mir ein, dass meine Beine genauso anmutig durch die Luft schnellten wie die auf dem Bildschirm.
Meine Mutter fand eine Ballettgruppe in der Nähe der Schule, die von einer engagierten Lehrerin, Frau Jentsch, organisiert und geleitet wurde und nicht viel kostete. Eine Hobbygruppe mit Anspruch. Ich wurde auf Biegsamkeit getestet und durfte fortan mittanzen. Lachsfarbene Schläppchen und ein schweinchenrosa Balletttrikot mit kurzem Röckchen mussten gekauft werden. Meine Modeträume spielten sich fortan auf diesem Gebiet ab. Aber alles, was nicht standardrosa war, erwies sich als teuer und unerreichbar: Röcke aus hauchzarten Stoffen zum Binden, Trikots mit großem Rückenausschnitt.
Zwei Paar Spitzenschuhe und drei Trikots habe ich in den sieben Jahren verbraucht, die ich getanzt habe. Meine Mutter hat mit mir Strumpfhosen gekauft, Haarspangen und ein mit Plastikperlen besetztes Haarnetz, das sie günstig erstehen konnte. Und bevor wir uns endlich eins dieser leichten Röckchen leisteten, haben wir vergeblich versucht, es selbst zu nähen. Mit der Hand. Zu den Vorführungen haben mich andere geschminkt. Es gab ja zahlreiche resolute ballettbegeisterte Mütter in der Garderobe. Irgendjemand hatte immer genug Dekoration für die Kostüme dabei, zumindest einen Fächer.
Als ich meine neuen weinroten Stulpen bis übers Knie ziehen konnte, fühlte ich mich zum ersten Mal ein bisschen erwachsen. Ich liebte alles an den Ballettstunden – das Schlurren der Füße auf dem Boden bei den Aufwärmübungen, das Ziehen in den Muskeln, die Dutthalter mit Glitzersteinen, den Geruch nach Puder und billigem Rouge vor den viel zu seltenen Auftritten, die Plastikrosen im Haar. Plötzlich war man jemand – eine stolze Spanierin, eine Schneeflocke.
Aber das Höchste waren die Spitzenschuhe, der Stoff, die harte Ledersohle, das Bänderannähen und das dumpfe Klopfen der Spitzen auf dem Parkett. Chopin zum Aufwärmen, Tschaikowski zum Tanzen. All das war Ballett und noch viel mehr. Der Traum vom Schweben und Eintauchen in andere Welten. Menschen, die an schmerzende Füße denken und an arme gequälte Mädchen haben keine Ahnung. Ein blaugetanzter Zeh ist eine Trophäe. Jemand, der dich in der Schule für deine etwas nach außen gedrehten Füße aufzieht, macht dir das größte Kompliment: Du bist eine Tänzerin.
Da meine Ballettlehrerin unsere finanzielle Lage kannte und ihre Kurse vergleichsweise preiswert waren, musste ich nur einen bezahlen und durfte dann so viele Stunden nehmen, wie ich wollte. Später bin ich in ein anderes, professionelleres und teureres Ballettstudio übergewechselt und fuhr ein- bis zweimal die Woche von Spandau nach Lichterfelde, quer durch Berlin. Die Lehrerin war eine ehemalige Solotänzerin der Deutschen Oper. Sie hat uns manchmal die abgelegten Spitzenschuhe der angehenden Ballerinen des Hauses mitgebracht. Richtige Tänzerinnen benutzen die Spitzenschuhe nur einmal. Ich habe immer gebangt, dass es für mich noch Größe 39 geben möge, wenn ich neue Schuhe brauchte. Schuhgröße 39 ist groß für eine Ballerina.
Auch diese Lehrerin hat mich gefördert und immer eine Stunde länger tanzen lassen, als ich bezahlen konnte. Bei ihr erhielt ich meine erste kleine Solorolle, es war der Blumenwalzer aus Tschaikowskys Ballett »Dornröschen«. Ich habe wochenlang vor dem Piqué Passé geschwitzt und besitze nicht ein einziges Bild von der Aufführung.
Später, als ich erkannte, wie weit entfernt ich trotz all meiner Hingabe vom professionellen Tanzen war, traf mich die Enttäuschung umso heftiger. Eine Zeitlang hat mich meine Ballettlehrerin zu ihrem Lehrer eingeladen. Ein ehemaliger russischer Tänzer mit einem Studio in Berlin-Charlottenburg. Die Probestunde lief gut, ich ging hin, obwohl ich genau wusste, dass meine Mutter den Unterricht dort nicht bezahlen konnte. In solchen Studios bekommt man keine Sozial-Rabatte. Und
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