Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
ein Ausnahmetalent war ich nicht.
Als ich noch in der Grundschule war, durfte ich einmal mit meiner Lehrerin Frau Jentsch in die Staatsoper ins Ballett gehen. Es war unglaublich aufregend. Ich hatte von Sabrinas Mutter eine schicke braune Jacke mit Pelzkragen geschenkt bekommen, die von irgendwelchen Verwandten stammte. Sabrinas Familie würde nie einen Pelz tragen, aber zu mir und meinen glamourösen Träumen passte das Jackett. Ich war so viel Eleganz gar nicht gewöhnt, und als ich auf dem Weg zu Frau Jentsch am Spielplatz vorbeimusste, habe ich mich ein bisschen geschämt. Gleichzeitig aber wollte ich gern eine richtige Dame sein.
Sabrinas Mutter neckte mich oft, weil ich als Einzige in der Klasse Musikunterricht nahm und so viel vom Ballett und meinem Traum sprach, auf eine Ballettschule zu gehen und nichts anderes mehr zu machen als zu tanzen. »Wie eine Tochter aus gutem Hause«, meinte sie. Im Nachhinein finde ich es sehr komisch, dass gerade ich, »das Sozialhilfekind«, der alternativen Familie, die jedes Wochenende gegen Atomenergie protestierte, das Bürgerliche vorführte. Aber damals habe ich weitergeträumt.
Nach der Vorstellung wollte Frau Jentsch noch mit ihrer Freundin etwas trinken gehen. Ich fuhr allein nach Hause, stieg aber – müde, wie ich war – am Rathaus Spandau in den falschen Nachtbus und landete in einem Industriegebiet. Handys hatte man damals noch nicht. Ich stieg aus, als ich meinen Fehler bemerkte, und wollte zurücklaufen, aber es war zu weit. Vor einem dunklen Haus blinkte eine Taschenlampe. Ich bekam Angst, aber es waren nur die Nachtwächter. Ich fragte sie nach dem Weg. Ich habe ihn trotz ihrer weitschweifigen Erklärungen nicht gefunden und der Bus zurück zum Rathaus sollte erst in einer Ewigkeit kommen. Am Ende hat mich ein Taxifahrer nach Hause gefahren. Danach habe ich die Pelzjacke nicht mehr angezogen.
Damals habe ich alle Ballettromane verschlungen, die ich in die Hände bekam: »Anna«, die Königin aller Ballettträume, dann »Cindy«, und als ich alle zwanzig Bände gelesen hatte, entdeckte ich »Katja«. Die Bücher lieh ich von meiner Freundin oder aus der Bibliothek aus, und wenn ich es gar nicht mehr aushalten konnte, habe ich ab und zu einen Band gekauft. Im Ballett geht es immer um Leben und Tod, um große Hoffnungen und viele Enttäuschungen, um tanzen oder nicht tanzen und immer um hundert Prozent Hingabe. Die sollte man allerdings, wie ich mittlerweile gelernt habe, auf den Tanz oder die Musik beschränken. Ich glaube, der Hang zum Dramatischen, der das Ballett kennzeichnet, hat sich in mein Leben geschlichen und es nie wieder verlassen.
Das erste Drama begann, als meine Gruppe in einen anderen Raum umzog. Fortan musste ich eine halbe Stunde mit dem Fahrrad zum Unterricht fahren. Leider war ich ziemlich faul, wenn ich aus der Schule kam. Und obwohl Ballett mein Traum war, obwohl ich froh und ganz erwartungsvoll gestimmt war, sobald ich den Trainingsraum betrat, hatte ich jedes Mal Mühe, mich aufzuraffen und aufs Fahrrad zu steigen. Irgendwann war meine Mutter es leid, mich immer losscheuchen zu müssen. Sie stellte mich vor die Wahl, das Ballett entweder aufzugeben oder aus eigener Verantwortung loszugehen. Ich war bockig und schlecht gelaunt an diesem Tag. Ich antwortete patzig, dann würde ich es eben aufgeben. Meine Mutter meldete mich umgehend telefonisch bei Frau Jentsch ab. Ich bereute es sofort, aber ich konnte nicht zurück, dafür war ich zu stolz. Ich könne Frau Jentsch gern selbst anrufen und ihr meinen Entschluss mitteilen, meinte meine Mutter. Das wäre für mich unglaublich beschämend gewesen. Lieber habe ich mir die nächsten drei Jahre eingeredet, ich dürfte nicht mehr zum Ballett, und habe die Tränen beim Sportunterricht unterdrückt, wenn mich jemand »Ballerina« nannte. »Ich tanze gar nicht mehr«, schluchzte ich dann innerlich.
Erst einige Jahre später, als ich in der fünften Klasse war, bin ich wieder zum Unterricht gegangen. Aber ich war gewachsen und inzwischen nicht mehr so biegsam. Ich kam gerade, als der Tag der offenen Tür in der Staatlichen Ballettschule anstand. Es war der Tag, an dem mein größter Traum sich langsam in Luft auflöste.
Ich war noch nicht wieder in Form, trotzdem schaffte ich es bis in die Vorauswahl und wurde zur Aufnahmeprüfung eingeladen. Aber ich war nicht weich genug, nicht genug gedehnt, unkoordiniert und schüchtern. Schon während der Prüfung spürte ich, dass ich es nicht schaffen
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