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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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würde. Das hemmte mich noch mehr. Und als wir einen Spreewaldkahnruderer nachmachen sollten, hatte ich keine Ahnung, was der Spreewald ist oder ein Kahnfahrer. Den Spreewald habe ich erst in der Oberschule kennengelernt.
    Nach dieser Stunde war mein Todesurteil gefallen. Ich konnte nicht Ballerina werden. Man hat nur eine Chance, dachte ich. Von uns zehn Mädchen wurde eins genommen. Keins aus unserer Gruppe. Und ich war schon eins der älteren. Ich tanzte weiter, bis ich in der neunten oder zehnten Klasse war und wartete darauf, dass mich doch noch jemand entdecken und ermutigen würde, Tänzerin zu werden. Aber es waren immer andere, die gesehen wurden. Und so räumte ich zu Hause meine Ballettromane in eine Kiste.
    *
    Ich verlor mich im Alltag, in meinen anderen Hobbys und versuchte krampfhaft, eine Alternative zu finden, die zu mir passen könnte und mich wenigstens in die Nähe einer Bühne bringen würde. Auch die Beratungsmodule des Berufsinformationszentrums, von denen ich mir mindestens ein Orakel erhofft hatte, erwiesen sich als enttäuschend: Kirchenmusiker oder Maskenbildner kamen für mich nicht wirklich in Frage. Letzteres hätte mich schon interessiert, wenn dafür nicht eine Friseurausbildung Voraussetzung gewesen wäre. Aus meinem dritten Hobby, der Tontechnik, konnte ebenfalls nichts werden, weil ich zwar jede Woche in der Kirche an einem großen Mischpult saß und fünf Instrumente und einige Stimmen regeln konnte, aber von Schaltkreisen, Lötkolben und Schallwellen nichts verstand. Blieb noch meine Liebe zur Literatur und das Engagement bei der Schülerzeitung. Doch irgendwie war mir immer klar: Genauso sicher wie die Tatsache, dass ich nicht mehr Ballerina werden würde, war es, dass ich niemals die Aufnahmeprüfung an einer Journalistenschule schaffen würde. Dafür war ich in allen Fächern, die etwas mit Allgemeinwissen zu tun hatten, zu schlecht. Ich habe mir Bücher zur deutschen Geschichte ausgeliehen, um meine Wissenslücken zu füllen. Das half auch nicht: Ich konnte mir nichts merken.
    Nachdem ich beim Ballett gescheitert war, raunte mir immer, wenn mich etwas begeisterte, eine innere Stimme sofort zu: »Das kannst du doch nicht.« Ich habe dem grenzenlosen Selbstvertrauen, das mich in meinen jungen Jahren trug, nie wieder geglaubt. Die Sehnsucht wurde immer größer, etwas gut zu können. Aber was es heißt, sich ein realistisches Ziel zu setzen und es zu erarbeiten, wusste ich nicht. Ich dachte immer, Erfolg hat etwas mit Talent zu tun, und man müsse warten, bis man entdeckt und gefördert wird.
    Ähnlich erging es mir mit der Klarinette. Eines Tages hörten wir in der Schule im Musikunterricht Prokofjews »Peter und der Wolf«. Ein typisches Stück aus »Klassik für Kinder«, das wir auch als Schallplatte besaßen. Im Unterricht sollten wir die verschiedenen Instrumente heraushören. Die Musik berührte mich nur mäßig – bis zu dem Part, in dem die Katze den Baum hinaufklettert. Dieser Klang faszinierte mich. Was das für ein Instrument sei, wollte ich wissen, das wollte ich unbedingt erlernen. Es war eine Klarinette. Meine Mutter zögerte, als sie das hörte. »Wir warten noch ein Jahr«, meinte sie. Wenn ich das Instrument dann immer noch erlernen wollte, würde sie sich kundig machen. So haben wir es gemacht.
    Als ich die etwas kleinere Schulklarinette zu Hause auspackte, waren die Abstände für die Finger noch zu weit auseinander. Wochen vergingen, bis ich überhaupt einen Ton aus dem Mundstück mit dem Holzblättchen herausbekam. Die ersten Tage mit einem Blasinstrument sind schwer, irgendwann aber quetscht sich dann der erste Ton ins Leben. Ich weiß nicht, wie meine Mutter ein Jahr später meine erste eigene Klarinette finanziert hat. Damals gab es kein Bildungspaket. Ich habe es als normal hingenommen, dass meine Mutter meine Wünsche Wirklichkeit werden ließ.
    Am Anfang hat sie mit mir gelernt. Sie kam auch zum Unterricht mit, um alles zu hören, was meine Lehrerin mir erklärte. Wenn ich in der Schule war, hat sie die gleichen Stücke wie ich geübt. Anfangs war sie besser als ich. Später aber hat sie irgendwann aufgegeben, als die Stücke schwerer wurden.
    Meine Klarinettenlehrerin mochte ich sehr. Sie hatte eine Schildkröte. In den Ferien hatten wir manchmal Unterricht bei ihr zu Hause. Dann hoffte ich immer, die Schildkröte zu sehen. Zu einem Geburtstag schenkte sie mir eine aus Stoff, die habe ich immer noch. Ich glaube, Frau Bacher mochte mich, aber sie hat

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