Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Schreibtischen vorstellen muss. Das kann bis zu zwei Stunden dauern und am Ende geht man möglicherweise trotzdem ohne klare Auskunft nach Hause, weil die Entscheidung nach undurchschaubaren Regeln im »Ermessensspielraum« eines vierten Sachbearbeiters liegt.
Auch mein Bekannter und ich sitzen bereits zum dritten Mal an diesem Tag im Wartezimmer neben dem Eingangsbereich und harren des nächsten Schreibtisches, an den wir vermutlich verwiesen werden. Eine Mitarbeiterin hat Mitleid mit uns. »Ich bringe Sie hin«, sagt sie auf dem Weg zum letzten Schreibtisch nach neunzig eigentlich ereignislosen Minuten im Amtsgebäude. »Dann hat Ihre Odyssee durch unser Haus endlich ein Ende.« Zu einer Odyssee gehören nicht nur Irrwege, sondern auch Zyklopen, Sirenen, zottelige Monster und der Hades. Das Jobcenter ist der Hades der Arbeitswelt. Um das zu vertuschen, spricht man von »Kunden«. Hier beherrschen selbst verständnisvolle und Vertrauen einflößende Mitarbeiter meistens nur eine Sprache: Amtsdeutsch. Und das besteht aus Wortungetümen, die in der Regel schon für Muttersprachler eine Herausforderung sind. »Neuer Erstantragsabgabetermin« ist so ein Wortmonster. Wenn die Sachbearbeiter es wenigstens langsam und deutlich aussprechen, klingt es gleich viel weicher.
Wie Bienen ihre Pollen tragen die »Kunden« solche sperrigen Worte von Schreibtisch zu Schreibtisch. Sogar ich habe Mühe, sie mir zu merken. Vergisst man aber so ein Wort, kann es passieren, dass ein wichtiger Antrag nicht richtig beschieden wird oder ein ganzer Vorgang stockt. Ich registriere, wie mein Bekannter kleine Nebensätze, in denen Informationen versteckt sind, überhört, weil er sich darauf konzentriert, die Antworten auf seine Fragen zu verstehen. Er hatte nicht mitbekommen, dass man sich nach dem Urlaub extra noch mal am Tresen zurückmelden muss, auch wenn man am gleichen Tag einen Termin bei einem Sachbearbeiter hat. Ob das denn nicht gleich ins System eingetragen werde, frage ich etwas verwundert. Ein bedauerndes Lächeln ist die Antwort. Leider ginge das nicht. Also noch einmal an den Tresen, Namen und Anliegen nennen, zehn Minuten warten. Um dann, noch bevor der Hintern das Sitzpolster erreicht hat, wieder rausgeschickt zu werden. »Nur eine Urlaubsrückmeldung?« Das war’s dann. Wäre es so viel teurer, wenn auch die Kraft an der Rezeption oder jeder Sachbearbeiter solche Dinge ins System eintragen könnte?
Einige Wochen später. Ich sitze auf dem engen Flur mit den Klappstühlen in der zweiten Etage des Jobcenters Berlin-Tempelhof. Mir nehmen drei verschlossene Türen die Sicht. Mein Herz klopft. So hat meine Mutter, als ich klein war, jeden Monat gewartet. Erst um Geld zu bekommen, dann für die Bewilligung eines sozialpsychologischen Eignungstests der Arbeitsagentur für mögliche Umschulungen, später dann für die Vermittlung von Ein-Euro-Jobs oder die Genehmigung einer Wohnung. Auf diesen Fluren habe ich Menschen, die selbstbewusster sind als meine Mutter, verzweifeln sehen. »Wenn man so allein ist, ohne Bestätigung von Menschen um uns herum«, sagt meine Mutter, »muss man immerfort an sich selber glauben. Im Umkreis vom Sozialamt bekommt man viele Misstrauensanträge. Es ist keine Kleinigkeit, sie ständig zu überwinden.«
Auch in mir kriecht eine unbestimmte Angst hoch, die Muskeln verspannen, ich bin in totaler Verteidigungsbereitschaft. Dabei geht es gar nicht um mich. Neben mir sitzt meine polnische Freundin Ewa. Sie hat mit mir in Berlin studiert, Politik, Geschichte und Literatur. Hervorragende Noten, vorbildliche Disziplin. Ewa war schon im Studium die Ehrgeizigste von uns, die Einzige, die alle Abgabetermine eingehalten hat. Sie will in die PR-Branche. Sie hat gerade ein Praktikum in einer der größten Werbeagenturen Deutschlands absolviert und war davor beim Europäischen Parlament. Seit einem Jahr ist sie arbeitslos und bekommt »Stütze« vom Jobcenter. Sie hat an die hundert Bewerbungen verschickt und möchte von ihrer Vermittlerin Jobangebote, auf die sie sich bewerben kann. Natürlich sucht sie selbst auch weiter. Einige Male wurde sie schon zu Vorstellungsgesprächen bei großen Forschungseinrichtungen und öffentlichen Institutionen eingeladen, aber eine Stelle hat sie nicht bekommen. Was fehlt ihr?
Ihre Sachbearbeiterin lässt uns warten. Der letzte Kunde ist bereits vor zehn Minuten aus dem Zimmer gegangen, der Termin mit Ewa ist seit einer Viertelstunde überfällig. Dabei gilt Pünktlichkeit als
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