Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
meine fehlende Motivation zu üben bemängelt und mir vorgeschlagen, in eine andere Gruppe zu gehen, wo nicht so viel Wert auf die täglichen Fingerübungen gelegt wurde. Ich habe mich so beschämt und weggestoßen gefühlt. Dabei stimmte, was sie sagte: Zum Üben konnte ich mich nie durchringen. Die Bestätigung fehlte. Die Magie war dann plötzlich weg. Die Töne klangen kläglich. Nun aber war der Trotzeffekt wieder da: Dann lieber gar nicht. Und ich habe aufgehört mit dem Klarinettenspiel.
Ich habe mich oft gefragt, warum ich damals nicht verstanden habe, was es bedeutet, etwas für sich selbst zu tun, sich ein Ziel zu setzen. Und warum ich nicht begriffen hatte, wie wichtig mir das Spielen und die Musik waren. Eigentlich hätte ich schon meiner Mutter wegen etwas mit Tanz oder Musik erreichen müssen, schon damit sich ihr Einsatz gelohnt hätte. Sie hätte sich sehr gefreut. Aber wenn ich mich frage, ob wir das Geld nicht dringender für anderes gebraucht hätten, dann würden sie und ich sofort im Chor antworten: »Nein!« Diese Welt kennenlernen zu dürfen hat mich, auch wenn ich keine Klarinettistin und keine Tänzerin geworden bin, stark geprägt, mir Fertigkeiten gegeben, meinen Geschmack gebildet, meine Interessen gelenkt. Das hat einen Wert, der in Geld nicht aufzuwiegen ist.
Auch mit der Klarinette habe ich später wieder angefangen. Ich habe mir damals bewiesen, dass ich jeden Tag üben kann. Meine Mutter hat mir, als ich zur Oberschule kam, die Verwaltung über das Kindergeld überlassen. Davon habe ich meine Ausgaben selber gedeckt und einen Klarinettenlehrer bezahlt. Und nun wurde ich jeden Tag besser.
Als ich in der neunten Klasse war, fing ich schon an, mich innerlich auf ein Musikstudium einzustellen. Ich übte viel, ich hatte mich bereits um einen Wechsel auf ein Gymnasium beworben, an dem es einen Musikleistungskurs gab. Aber dann kam ich in die zehnte Klasse, die Schule schien kein Ende zu nehmen, die Streitereien mit meiner Mutter auch nicht, und als ich die Möglichkeit erhielt, nach Schweden zu gehen, sagte ich zu.
KAPITEL ELF
Wie Asterix Rom erobert hat
In dem es um kafkaeske Zustände beim Arbeitsamt geht, um Wortungetüme, Herzklopfen und viele nette, aber überarbeitete Sachbearbeiter und ich einmal richtig sauer werde.
Wir sitzen wie Statisten am Set einer Fernsehserie und warten darauf, dass die Klappe unsere Szene ankündigt. Jobcenter-Termine sind wie ein Statistenjob, weil man immer lange darauf warten muss, dass etwas passiert, ohne dass man weiß, was genau passieren wird und welche Rolle man dabei zugewiesen bekommt. Manche von denen, die mit uns warten, haben sich für ihren Auftritt bereits ihre Kostüme übergeworfen, der Lässige in blauer Jeans und schickem T-Shirt, eine Latino-Mutti mit goldenen Ohrringen, ein Punk in Lederjacke. Säßen sie in einem Café, hätte ich sie vielleicht für Schriftsteller, Büroangestellte, Fitnesstrainer oder Studenten gehalten. Aber ihr Gang, dieses Zügige, das durch das betont Lässige unverkennbar durchscheint, und der kleine Papierstapel in der Hand verraten sie – ich habe sie schon auf dem Weg zum Jobcenter als »Kunden« erkannt.
Aber auch die genießen eine gewisse Exklusivität. Ich hätte zum Beispiel gern einmal an einer Online-Bildungsmaßnahme, der sogenannten E-Lernbörse, teilgenommen. Das ginge leider nicht, bekam ich zur Auskunft, »die ist nur für Kunden des Jobcenters«. Und zu diesem erlauchten Kreis gehörte ich nun einmal nicht.
Ich gucke mich im Warteraum um und sehe über fünfzig Prozent ausländische »Kunden«. Ich selbst begleite einen Freund. Mein Schützling hat seine Deutschprüfung schon vor zwei Jahren mit Auszeichnung abgelegt – trotzdem guckt einer der Sachbearbeiter nur mich beim Sprechen an. Ich versuche, im Hintergrund zu bleiben und nur bei Unklarheiten einzuspringen – trotzdem sagt mein Bekannter hinterher über unseren gemeinsamen Besuch: »Sie benehmen sich ganz anders, wenn du dabei bist.« Absicht ist das vermutlich nicht, es passiert einfach. Aber es sollte nicht passieren.
Das Jobcenter ist ein Labyrinth, jeder Raum, sogar jeder Schreibtisch steht für ein besonderes Aufgabengebiet. Von außen ist keine Logik der Zuständigkeiten erkennbar. Vor jedem Tisch muss man sich noch einmal erklären: Warum man heute einen Termin hat und mit welchem Schlüsselwort einen der letzte Mitarbeiter auf den Weg geschickt hat. So kann es sein, dass man sich für eine schlichte Information an drei
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