Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
gewünscht, sie wäre weniger stolz gewesen. Zum Beispiel damals, als wir von Kreuzberg nach Spandau umgezogen sind und in der neuen Wohnung keinen Waschmaschinenanschluss vorfanden. Wir hatten die alte Waschmaschine nicht mitgenommen, sie schleuderte nicht mehr. Meine Mutter konnte weder den Anschluss noch eine Reparatur bezahlen, eine neue Waschmaschine aber, das hatte sie so gehört, würde man erst ab zwei Kindern bewilligt bekommen. Also wusch sie unsere Wäsche fast drei Jahre in der Badewanne. Aus dem pfeifenden Teekessel wurde kochendes Wasser nachgeschüttet. In der Wanne musste sie sich tief über den Rand beugen, das ist für den Rücken auf Dauer eine Tortur. Mir war schon die Handwäsche im Waschbecken zu anstrengend, wenn ich ein Tuch, ein Balletttrikot oder ein T-Shirt ausspülen musste. Am Ende wurden die Wäschestücke mit der Hand ausgewrungen. Das geht sehr auf die Handgelenke. Wenn ich beim Auswringen half, wollten die langen Handtücher und Laken kein Ende nehmen. Mir taten längst sämtliche Finger weh, wenn es meiner Mutter immer noch gelang, Wasser aus den schweren Stoffwürsten zu pressen. Aber 1986 war sie körperlich so erschöpft, dass sie sich endlich dazu durchrang, eine Waschmaschine für uns zu beantragen. Sie fühlte sich immer noch, als würde sie etwas Unverschämtes einfordern. Weil die Frau, bei der sie ihren Antrag begründen musste und mit der sie dachte, sich offen über ihre Lebenslage unterhalten zu können, ihr unterstellte, dass sie ihren Wunsch, eine Arbeit zu finden und ihre Schwierigkeiten dabei nur deshalb zur Sprache brachte, damit die Maschine bewilligt wurde. Das hat meine Mutter sehr gekränkt. Die Maschine hat sie bis 2012 benutzt.
Meine Mutter kann sich nicht erinnern, dass man ihr auf dem Amt je einen solchen Antrag, den sie eh nur stellte, wenn sie etwas für unbedingt notwendig hielt, abgeschlagen hätte, aber es hat sie auch kein Sachbearbeiter über ihre Rechte aufgeklärt, über all jene Möglichkeiten, mit denen sie sich die eine oder andere Erleichterung hätte verschaffen können. Strukturell ähnliche Erfahrungen machen alle, die auf das Jobcenter angewiesen sind. Es ist eine wohlfahrtsstaatliche Einrichtung, aber keine demokratische Institution.
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Jeder, der einmal mit dem Jobcenter zu tun hatte, kennt diesen Moment der Verwandlung, wenn man durch den Eingang des Gebäudes tritt, um sich entweder in die Schlange vor den Schreibtischen im Untergeschoss einzureihen oder geradewegs auf eine bestimmte Etage zum Sachbearbeiter zu gehen. Auf der Schwelle häutet man sich, streift seine Identität ab und lässt sie wie eine alte Hülle draußen vor der Tür liegen, um sich nun die Jobcenter-Kunden-Haut überzuziehen. Die ist empfindlich, spannt, sie ist auch nicht besonders reißfest und schützt die darunter liegende Unsicherheit nur dürftig. Welche Erfolge man im Leben auch erzielt haben mag, hier werden sie nichtig. Denn nun wird man zum »Transferleistungsempfänger« reduziert.
Beitragsempfänger sind Schattenwesen. Außerhalb des Amtes haben sie alle eine Identität. Sie sind Mütter, Töchter, Söhne, Väter, manchmal mit dramatischen Schicksalen. Als Beitragsempfänger zählt vor allem ihre Kooperationsfähigkeit, Individualität wird eher abgestraft. Von Beitragsempfängern wird Gehorsam erwartet. Nur wer unendliche Geduld aufbringt, erreicht etwas, oder wer forsch zu fordern versteht. Allerdings muss man genau wissen, wann man die Regeln einhalten und wann man sie missachten muss, um vorwärts zu kommen. Eine deutsche Wissenschaft.
Beitragsempfänger feilschen Tag für Tag um kleine Summen. Entweder mit anderen oder mit sich selbst. Größere Beträge haben etwas Unwirkliches. Versicherungen und Bausparverträge sind für Beitragsempfänger wie Werbung im Westfernsehen für DDR-Bürger vor der Wende – sie haben nichts mit ihrem Alltag zu tun. Von der Rente ganz zu schweigen. Aber bis dahin hat sich wahrscheinlich alles wieder geändert. Dieser Gedanke hat letztlich etwas Tröstliches.
Dass man jede noch so kleine Summe rechtfertigen muss, hat meine Mutter immer am meisten an Hatz IV gestört. Man käme sich dadurch wie ein unmündiger Mensch vor. Weil man mit jedem noch so unbedeutenden Anliegen zum Bittsteller werde, meint sie, entstehe ein Dauergefühl der Demütigung, und dabei müsse man auch noch immer sachlich bleiben und geduldig hinnehmen, was man nicht ändern könne.
Das Gefühl der Ohnmacht, das sich spätestens einstellt, wenn
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