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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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verkrochen und entsetzlich betrunken dabei. Die Bomben fielen Tag und Nacht. Und einmal hatte ich buchstäblich die Hosen voll vor Angst.«
    Er erinnerte sich. Der Bericht über die Menschen im Bombenhagel, über die Geschockten, Verwundeten und Toten war hautnah, realitätsgesättigt und besonders erschütternd gewesen. Als ob Lilly mittendrin gewesen wäre. Sie sah wieder aus dem Fenster.
    »Es ist manchmal nicht auszuhalten. Der Schmerz, der Tod. Die Frauen, die Kinder. Das ist nicht human …« Lilly machte eine hilflose Geste mit den Händen. Wie klein sie war. Wie zart sie wirkte.
    »Manchmal wird mir das alles zuviel. Verstehst du das, Hansi?«
    Er nickte, benommen. Natürlich verstand er. Alles. Andererseits …
    »Andererseits: Wer, wenn nicht wir? Irgendeiner muß die Arbeit ja machen – auch wenn es einem manchmal bis hier steht.« Sie fuhr sich mit der Handkante über die Kehle. »Oder, Hansi?«
    Was sollte er dazu sagen? Er zuckte hilflos mit den Schultern.
    »Es macht ja auch Spaß.« Lilly nahm den Kamm aus ihrem Haar, schüttelte die blonden Locken und steckte sie wieder fest. »Nur manchmal …« Dann lachte sie leise.
    »Ich habe schon als Kind geglaubt, ich würde nur geliebt, wenn ich was leiste. Wenn ich was schaffe, wenn ich was bringe.«
    Hans kam das vertraut vor. So verdammt vertraut.
    »Ich hab’ nichts anderes gekannt. Nur nicht weich werden, war die Devise.«
    Sie sah ihn wieder an. Hans wand sich unter ihrem Blick. Er verstand nur zu gut. Er kannte dieses Gefühl, eine Null, ein Nichts zu sein, wenn er nicht brachte, was alle Welt von ihm zu fordern schien. »Wir haben nichts anderes von dir erwartet«, pflegte sein Vater zu sagen, wenn er mit guten Noten nach Hause gekommen war und eigentlich gelobt werden wollte. »Bei dem Erbgut!«
    »Du verstehst das. Wer, wenn nicht du?« Ob sie das noch sagen würde, wenn sie wüßte, daß er wußte, was Zettel wußte?
    »Der da« – Lilly zeigte mit dem Kinn auf Zettels Computer –, »der da denkt nur an sich.«
    »Er ist – ein guter Journalist«, sagte er lahm.
    »Er hat gern Macht über andere.« Lilly war ganz leise geworden und sah an ihm vorbei. »Du bist der einzige Anständige hier.« Sie lachte auf. »Weißt du eigentlich, daß die kleine Paula auf dich steht?«
    Hans hatte das dumme Gefühl, daß ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Sie will was lernen«, sagte er. »Ich versuche ihr die Grundbegriffe des Journalismus beizubringen.«
    »Die Rechtschreibregeln?!« Lilly grinste. Es war in der Redaktion nicht verborgen geblieben, daß er die Rechtschreibreform mit religiösem Eifer bekämpfte.
    »Nein, Lilly. Den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit«, sagte Hans mit fester Stimme, innerlich zitternd vor Kühnheit.
    Lillys Augen hatten sich verengt. Nach einer Weile sagte sie: »Ach – weißt du – die Wahrheit …«
    »Ist das nicht das Entscheidende?« Hans versuchte, den Ausdruck in ihren Augen zu deuten.
    Sie wiegte den Kopf. »Manchmal sind die Gefühle wichtiger als die Wahrheit.«
    »Meinst du das ernst?«
    Es war ein seltsamer Blick, mit dem sie ihn ansah. Dann schien sie sich einen Ruck zu geben. »Erinnerst du dich an den kleinen Mehmet?«
    An Mehmet, eine Zeitlang das berühmteste Kind Deutschlands? »Und ob«, sagte Hans. Der Junge mit den großen dunklen Augen hatte Vater und Mutter, die Großeltern, die Onkel und die Tanten und alle sechs Geschwister verloren im Bürgerkrieg – und Lilly hatte die ganze schreckliche Geschichte aufgeschrieben. »Für Mehmet!« hatte der Verteidigungsminister mit Tränen in der Stimme ausgerufen, als er der Öffentlichkeit die Entscheidung zum Eingriff ins Krisengebiet mitteilte.
    »Hättest du dich für das Gefühl oder für die Wahrheit entschieden?«
    Natürlich für die Wahrheit, wollte er schon sagen, als er sah, daß sie Tränen in den Augen hatte.
    »Wenn du das gesehen hättest … Die Frauen … Die Kinder … Das alles brauchte ein Symbol.« Lilly holte ein Taschentuch aus der Jackentasche und schneuzte sich.
    Becker war sich nicht sicher, ob sie meinte, was sie damit sagte.
    »Es war vielleicht nicht die Wahrheit , die schließlich im Blatt stand. Aber es hätte so sein können, Hansi. Es hätte alles genauso gewesen sein können.«
    Hätte, hätte – aber war es auch so, wollte er fragen: War es auch so? Und wie war das mit all den anderen Berichten aus dem Lager der Mühseligen und Beladenen? Waren es wirklich Neonazis, die der Rollstuhlfahrerin ein Hakenkreuz in die

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