Nichts als Erlösung
mir.
Sonja. Die Wohnung. Das Kind. Darum geht es jetzt nicht, es geht um Schneider: Wie er tickt, wie er ist, was sie noch nicht über ihn wissen, was sich daraus ergibt. Wie sie ihn finden können, das vor allem. Die Krieger retten und Lea Wenzel.
Sein Handy fiept. »Er ist gestern um 14:15 Uhr von Düsseldorf nach Samos geflogen«, haspelt Meuser. »Er hat nur den Hinflug gebucht. Und wir haben seinen USB-Stick mit den Tatortfotos und den Drucker, mit dem er die Fotos ausgedruckt hat. Es ist nicht zu fassen, der Drucker steht hier im Präsidium in seinem Büro.«
Schneider macht sich keine Mühe mehr, seine Spuren zu verwischen. Er will nicht zurückkommen. Das ist es, was auch diese Wohnung ausstrahlt. Sie ist verlassen worden, aufgeräumt für immer. One way. No return.
»Was ist mit Griechenland, mit den Kollegen dort?«, fragt Manni.
»Millstätt ist dran, ist wohl nicht ganz einfach. Er sagt, du sollst runterfliegen, um 15 Uhr. Wir kommen jetzt rüber.«
Das Zimmer, das sich an die Küche anschließt, ist tatsächlich der Hammer, eine Kreuzung aus Schrein und Bibliothek. Drei Wände sind vollkommen mit Metallregalen zugestellt, in denen sich Bücher und akribisch beschriftete Materialsammlungen aneinanderreihen. Presseartikel, Fotos, Filme, Petitionen, Korrespondenzen – ein gewaltiges Archiv zur Geschichte der Kinderheime in Deutschland. Vor der vierten, leeren Wand steht ein schmaler, mit einem dunkelblauen Seidentuch abgehängter Tisch, der wohl als eine Art Altar dient. Doch weder ein Kreuz noch Jesus oder Maria stehen im Zentrum, sondern das silbern gerahmte Porträt einer Frau.
Er hebt das Porträt hoch, hält es ans Licht. Die Qualität ist nicht allzu gut, schwarz-weiß, ein bisschen verschwommen. Aber die Frau ist trotz allem ganz unverkennbar Judith Krieger. Er starrt auf die Altarkerzen und die blutroten Rosen, die es flankieren. Er hat dieses Foto schon einmal gesehen. In Farbe. Es war im KURIER, Zobel, der Reporter-Fuzzi, hat es im Frühjahr von der Krieger gemacht, nach ihrem Coup mit dem Priestermord. Sie hatte sich die Haare zurückgesteckt und eine komisch zugeknöpfte Bluse angezogen, vermutlich, weil sie keine Lust auf diesen Termin hatte und darauf, sich allzu privat zu präsentieren. Schneider muss es damals gesehen und fotokopiert haben. Also ist er schon seit Monaten auf Judith Krieger fixiert. Also hatte Böhm tatsächlich recht. Die Krieger sieht aus wie Schneiders Verlobte.
Er stellt das Foto zurück, dreht sich herum. Von dem Altar und den Regalen einmal abgesehen, gibt es in diesem Raum nur noch einen Schreibtisch und einen Waffenschrank. Der Schreibtisch ist so ausgerichtet, dass man, wenn man daran sitzt, direkt auf den Altar blickt. Mittig auf der Tischplatte thront die antike hellgrüne Lettera-22-Schreibmaschine, daneben liegt eine schwarze DIN-A4-Mappe. Die Tür des Waffenschranks steht einladend offen. Schneiders Dienstpistole, eine Schrotflinte samt Jagdschein, eine P1, jeweils mit Munition, liegen darin. Als Privatperson in einem Urlaubsflieger konnte Schneider die nicht mitnehmen. Und ganz offenbar ist es ihm inzwischen egal, dass sich in diesem Raum mehr Beweismittel gegen ihn befinden, als selbst der skeptischste Staatsanwalt anfordern würde.
»Guck mal hier«, sagt Munzinger und hält ihm einen aufgeschlagenen Ordner hin.
Manni tritt neben den Kriminaltechniker. Kopien der Ermittlungsakten, eine vollständige Adressliste der ehemaligen Kinder aus dem Haus Frohsinn, Fotos aus dem Heim, auf mehreren glaubt er Schneider als Kind zu erkennen. Er überfliegt den restlichen Inhalt des Regals, zieht ein schweinsledernes Fotoalbum hervor. Gleich auf der ersten Seite klebt ein Foto des Kinderheims Frohsinn, wie er es schon aus Miriams Zimmer kennt. Doch auf den folgenden Seiten kleben auch Aufnahmen von Menschen. Ein junger Hans Vollenweider inmitten einer Gruppe halbwüchsiger Heimkinder mit hungrigen Augen. Hans und Johanna allein, dann mit Jonas, schließlich auch mit Miriam. Ernst und steif posieren sie Jahr um Jahr vor dem Kinderheim, als habe es für sie nie ein Privatleben gegeben. In den Stehsammlern daneben befinden sich die gesammelten Berichtsbücher und Korrespondenzen des Heims, von denen das Jugendamt annahm, sie seien durch den Brand vernichtet worden. Aber Schneider war gründlich und systematisch, er hatte sich vorher geholt, was er haben wollte.
Manni schiebt den Stehsammler zurück ins Regal. Betrachtet den Waffenschrank, dann die Schreibmaschine.
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