Nichts als Erlösung
wohl beweist, dass es Tag ist. Ein griechischer Sommertag, draußen, auf Samos. Das Meer war tiefblau, als sie am frühen Morgen gelandet ist, ein letzter Rest Gold lag auf den Bergen. Sie hat Wasser gekauft, Frappé und Blätterteigtaschen mit Schafskäse, und bei einem der Autovermieter in der Ankunftshalle hat sie einen Wagen gemietet, einen hellblauen Peugeot, der schon ein paar Schrammen hatte, aber günstig war. Und dann ist sie losgefahren, und sobald sie in der Gegend von Limnionas war, hat sie alles wiedererkannt, als habe sich diese Landschaft mit allen Farben, Gerüchen, Geräuschen in ihr eingebrannt, mit all diesem Licht, und auf einmal hat sie gewusst, dass sie sich die ganze Zeit wieder hierhergewünscht hatte, dass sie deshalb bereit gewesen war, direkt loszufliegen, als Lea anrief. Dass sie nicht nur als Kommissarin hier ist, sondern auch für sich.
Sie hat an die schwarzbunte Katze gedacht, als sie mitten hinein in das Sirren der Zikaden auf Leas Grundstück gefahren ist, und auch das hat sich beinahe angefühlt wie eine Heimkehr.
Und dann der Schock: Leas Schimmel war nicht da, nur Koios, sein Schatten, stand auf der Koppel und sah ihr entgegen. Angst trieb sie auf die Veranda zur Haustür. Sie hat geklopft und gerufen, und als die Tür aufging, war sie eine Millisekunde lang verwirrt, ja fast erleichtert, und dann war nur noch Schwärze.
Das Ruckeln verlangsamt sich, der Motor heult auf. Wieder rutscht Judith nach vorn, ihre Hände sind taub von den Fesseln, nicht zu gebrauchen, um sich abzustützen, etwas bohrt sich in ihr Knie. Atme, Judith, atme. Du bist gefangen, gefesselt, aber du bist nicht schwer verletzt, und du bist noch nicht tot, und -. Der Motor verstummt abrupt, das Schaukeln hört auf. Sie glaubt, das Geräusch einer Handbremse zu hören, zuckt trotzdem zusammen, als die Autotür knallt. Und jetzt, was ist jetzt? Schritte, die näher kommen, Schritte auf Kies. Schritte, die anhalten, abwarten, sich wieder entfernen. Sie merkt plötzlich, dass sie aufgehört hat zu atmen, und zittert und saugt Luft in ihre Lungen. Sie darf dieser Panik nicht nachgeben, wenn sie eine Chance haben will, das hier zu überleben. Es ist wie Tauchen in schwarzem Wasser, zurück an die Oberfläche, zurück ans Licht.
Atmen, atmen. Atmen und denken. Da war noch etwas, als sie vor Leas Haustür stand. Verwirrung, Erleichterung und ein Geruch, den sie schon einmal wahrgenommen hat. Frische. Sauberkeit. Seife vielleicht, Kernseife. Der Geruch des Täters, der in Miriams Dachzimmer hing.
Der Täter, natürlich, er ist es, er. Wer sonst sollte sie hier auf Samos entführen. Was wird er tun? Was hat er vor? Das Auto fährt nicht mehr, sie hört seine Schritte nicht mehr, lässt er sie hier etwa einfach verrecken? Sie hält den Atem an, hört nur ihren eigenen Herzschlag, rasend und laut. Gefangen sein, eingesperrt, ausgeliefert, sie hält das nicht aus, nicht noch einmal. Doch darum geht es nicht, wird ihr plötzlich klar. Es geht darum, wie es für ihn war, damals, im Keller des Kinderheims Frohsinn, den man nicht Gefängnis nannte, sondern Besinnungsraum. Rudi, der Heimjunge. Der kleine Rudi. Ein Junge, der um ein Bild geweint hat und sicher auch um seine Mutter. Was für ein Bild mag das gewesen sein? Konzentrier dich, Judith, dieses Bild ist wichtig, du weißt, dass es so ist, gleich als Lea davon erzählte, hast du das gewusst.
Schritte, wieder Schritte, sie kommen zurück. Aber da ist noch ein zweites Geräusch, eine Art Rascheln und Schleifen, als ob etwas über den Boden gezerrt wird. Lea, was um Himmels willen ist mit Lea und mit ihrem Kind?
***
Rudi. Rudolf. Es ist ganz leicht, sobald sie seine Fingerabdrücke haben. Der Mörder, den sie seit 20 Jahren jagen, ist einer von ihnen, ein Mitglied der Soko, damals wie heute. Der kleine Rudi ist Kriminalhauptkommissar Rudolf Schneider, der sich heute Rolf nennt. Geboren am 18.4.56 in Euskirchen. Der Vater unbekannt. Die Mutter war mit achtzehn nach damaligem Recht noch minderjährig, das Jugendamt übernahm die Vormundschaft und brachte den kleinen Rudolf zunächst in Pflegefamilien, ab 1959 dann im Kinderheim Frohsinn unter. 1975 verpflichtete er sich bei der Bundeswehr, wechselte 1981 zur Polizei und heiratete, 1982 kam sein Sohn auf die Welt, 1986 reichte seine Frau Susanne die Scheidung ein, was wohl der Auslöser für den Mord an den Vollenweiders war. Sogar das Rätsel um Sievert ist endlich gelöst. Schneider hatte sich dessen KFZ-Kennzeichen
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