Nichts als Erlösung
Adresse füttert, die die Polizei so gern geheim halten wollte, die herauszubekommen ihn jedoch nicht einmal fünf Minuten gekostet hat. Gestern hatte er noch überlegt, ob die Honorarerhöhung, die sein Informant für die Rund-um-die-Uhr-Überwachung des Polizeifunks fordert, nicht deutlich überzogen sei. Jetzt ist er froh, dass er sich dazu durchgerungen hat, zu zahlen. Das Todeshaus! Der gute Reiermann war völlig pikiert, als er ihn damit konfrontierte. Woher der KURIER das zu wissen glaube, die nächste Pressekonferenz sei unbedingt abzuwarten, alles noch offen und zu beweisen, blablabla. Aber dementiert hat Reiermann nicht, und das war ja auch schlecht möglich. Zobel gibt Gas, als die Ampel vor ihm endlich wieder auf Grün springt. Sein Riecher war richtig, goldrichtig, die Story wird groß, ein Top-Aufmacher, bundesweit, zumal jetzt im Sommerloch, in dem die PR-Abteilungen der Republik ihren bunt durcheinandergequirlten Wahnsinn noch hemmungsloser als sonst in die Redaktionen ballern.
Schon wieder rot. Die Luxemburger ist wie die anderen Hauptausfallstraßen Kölns wieder einmal völlig verstopft, die Nachmittagssonne brennt ihm durchs geöffnete Autodach auf die Stirn, es stinkt nach Benzin, es macht ihm nichts aus. Das Todeshaus! Ein Anruf in der Redaktion hat ihm bestätigt, was er bereits ahnte: Der KURIER hat vor 20 Jahren natürlich groß über das mysteriöse Verbrechen in Hürth berichtet. Rufus Feger höchstpersönlich, hat sich die Redaktionssekretärin Wiltrud Senner sofort erinnert, auf deren Elefantengedächtnis man sich ohne Einschränkung verlassen kann. Regelrecht in diese Familientragödie verbissen habe der große Feger sich damals, hat sie hinzugefügt. Es muss also noch die alten Artikel dazu geben, mit etwas Glück sogar Fegers Notizen und Fotos. Nicht digitalisiert zwar und deshalb wohl auch nicht hübsch geordnet, aber gut, das waren eben die 80er. Altmodisch. Archaisch. Analog. Eine Welt, die er selbst nur vom Hörensagen kennt, doch natürlich wird er sich gern in die Untiefen des Redaktionsarchivs begeben, um diese Welt ganz exklusiv zu rekonstruieren, selbst wenn er sich dabei eine Staublunge holt.
Grün wieder, weiter geht’s, ein großes Stück weiter, vor ihm kommt der Waldstreifen in Sicht, der die Stadtgrenze markiert, und dahinter liegt Hürth. Er denkt an die Fotos von Judith Krieger, das Telefonat am Morgen, ihre Wut. Er hat nicht damit gerechnet, dass sie ihm gleich mit Erpressung und Unterschlagung von Beweismaterial und Behinderung der Ermittlungsarbeit kommt. Ein Fehler, er hätte das natürlich in Betracht ziehen müssen, er war ja gewarnt. Doch das ist nun nicht mehr zu ändern. Wenigstens weiß Judith Krieger nicht, was genau auf seinen Fotos ist, und er wird einen Teufel tun, brav alles an sie zu übergeben. Wissen ist Macht, man weiß schließlich nie, wozu man Informationen einmal gebrauchen kann, und für alle Fälle hat er die Dateien so gespeichert, dass die Polizei sie selbst bei einer Durchsuchung nicht finden kann.
Grasgeruch weht durchs Autofenster, ein Hauch von Kühle, als er die letzten Gebäude Kölns endgültig hinter sich lässt. Aber dann ist es damit auch schon wieder vorbei, der Ortseingang von Hürth kommt in Sicht: eine Tankstelle, ein paar entsetzlich hässliche Häuser, ein Schnellimbiss. René Zobel hält kurz an, um sich eine Flasche Wasser zu kaufen, lässt sich dann von seinem Navigationsgerät weg von der Hauptstraße leiten. Am liebsten hätte er ja gleich nach dem Telefonat mit der Senner einen Abstecher in den Archivkeller gemacht. Aber die nächste Deadline rückt unerbittlich näher, und wenn die Zentralredaktion morgen mit seiner Story aufmachen soll, braucht er Fotos, so tickt nun mal der Boulevard. Und was heißt schon Boulevard – selbst die alte Tante FAZ druckt längst keine Schwarz-Weiß-Bleiwüsten mehr.
Er biegt nach links ab, dann wieder nach rechts. Obwohl er wahrlich viel rumkommt, ist er in diesem Stadtteil Hürths noch nie gewesen, und das war weiß Gott kein Fehler. Verpasst hat er hier nichts. 08/15-Domizile wechseln sich mit ein paar krassen 70er-Jahre-Bausünden ab, die Gärten sind eingezäunt oder mit Friedhofs-Immergrün abgeschirmt. Die nächste Abbiegung führt ihn durch ein Reihenhaus-Neubaugebiet mit Holzbänken und grellbuntem Plastikspielzeug vor den Türen, das es exakt so auch in der Peripherie jeder anderen Stadt gibt. Das platte Feld mit den Hochspannungsleitungen am Ende der Gärten ist jedoch
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