Nichts als Erlösung
nachdem sie sich begrüßt haben, und macht eine einladende Geste in Richtung Holztisch.
Sie selbst setzt sich nicht, sondern holt von drinnen einen Krug Wasser und Tonbecher. Fragt, ob Judith und Maria Kaffee trinken möchten oder Tee, ob sie sonst etwas anbieten könne. Ihr Bauch ist gewaltig, aber sie bewegt sich mit Leichtigkeit, anmutig beinahe, und ihre Stimme ist fest. Nur die tiefen Schatten unter den Augen und die vor Anspannung beinahe weißen Lippen verraten, wie es tatsächlich um sie steht.
Judith lässt sie gewähren, Kaffee holen, Brot. Eine Schale mit Feigen. Weil auch dieses Hinauszögern zu dem grausamen Ritual einer solchen Befragung gehört. Aber dann gibt es für Lea nichts mehr zu tun, und sie sinkt auf einen Stuhl, nicht mehr anmutig, sondern mit einer steifen, schwerfälligen Bewegung.
Langsam, so schonend wie möglich, tastet Judith sich vor. Fragt nach Leas Gesundheit, nach dem Kind, nach dem Krankenhausaufenthalt und wie sie in der letzten Nacht klargekommen sei. Lässt sie erzählen, wie sie Jonas Vollenweider fünf Jahre zuvor in Limnionas kennenlernte, in ihrem Urlaub, bei einer Schnorcheltour. Wie sie gleich wusste, dass sie bleiben wollte, weil sie damals in Deutschland kurz vor dem Zusammenbruch gestanden hatte, vor lauter Stress, ausgerechnet sie, die doch als Psychotherapeutin in einer Burn-out-Klinik arbeitete. Wie sie von einem Tag auf den anderen dort kündigte und nach Limnionas zog und mit Jonas gemeinsam ein Kursangebot zum Stressabbau konzipierte. Wie gut das angenommen wurde. Wie sie schwanger wurde, jetzt noch, wo sie nach all den Jahren nicht mehr daran geglaubt hatte, mit 41 Jahren. Wie sie sich gefreut hatten auf dieses Kind. Als man ihnen dann auch noch das Angebot machte, das angrenzende Grundstück zu kaufen – mitsamt einer Zehn-Zimmer-Pension, zu einem fairen Preis –, schien alles perfekt. Der Besitzer mochte sie und gab ihnen den Zuschlag, nicht einem der Touristikkonzerne, die darauf spekulierten.
»Deshalb also wollte Jonas sein Elternhaus in Hürth verkaufen«, folgert Judith.
»Er war so erleichtert, nachdem er das entschieden hatte, so froh.« Zum ersten Mal sieht Lea Wenzel Judith an.
»Das Haus hat ihn also belastet?«
»Natürlich. Ja. Bei dieser Geschichte.«
»Wie war das, als er nach Köln flog, war er nervös?«
Lea schüttelt den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Eher entschlossen. Nachdem er mit dem Makler im Haus gewesen war, haben wir noch einmal telefoniert. Er klang glücklich. Alles laufe wie geschmiert, hat er gesagt.«
»Wann genau war das, und was hatte er dann vor?«
»So gegen sechs. Da war er auf dem Weg in die Innenstadt. Er würde im Dom zum Abschied von Köln eine Kerze anzünden, hat er gesagt, dann in der Altstadt etwas essen gehen.«
»Wollte er noch jemand treffen?«
»Nein.«
»Und dann?«
Lea schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt auf. »Ich bin nachts aufgewacht und hatte auf einmal schreckliche Angst um ihn. Ich habe sofort versucht, ihn anzurufen, aber sein Handy war aus.«
Sie holt Luft, hebt den Kopf, starrt hinüber zu dem Pferd und dem Maultier, die einträchtig nebeneinanderstehen.
»Aus war es, immerzu aus. Die ganze Zeit aus.«
»Sein Rückflug ging nicht nach Samos, sondern nach Athen?«
»Er hatte keinen anderen gekriegt, und er wollte doch so schnell zurück, es ist doch Saison, unsere Kurse sind ausgebucht. Er hoffte, er könne in Athen last minute einen Inlandsflug ergattern oder sonst die Fähre nehmen.«
So einfach ist das alles, so logisch. Judith blickt zum Meer hinunter, das am Fuß des Olivenhains glitzert, aquamarinblau, unwirklich schön. Sie stellt sich vor, wie Lea hier gesessen hat und Jonas’ Handynummer wählte. Stunden, dann Tage. Wie sie versucht hat, zu hoffen.
»Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Jo war mit dem Handy oft vergesslich, aber eigentlich nicht mehr, seit ich schwanger war«, flüstert Lea. »Wer tut denn so was? Wer bringt ihn denn einfach um? Er hat doch niemandem etwas getan.«
»Sie wissen, dass er 1986 als Hauptverdächtiger im Mord an seiner Familie galt und in Untersuchungshaft saß?«
»Aber das war doch absurd! Er hätte doch nie …« Lea bricht ab, krampft die Hände ineinander. »Sie meinen, jemand hat ihn deshalb … nach all diesen Jahren?«
»Wir stehen noch am Anfang, aber wir untersuchen diese Möglichkeit, ja.«
Eine Floskel ist das. So oft schon benutzt, doch das macht sie nicht besser. Judith denkt an Jonas’ Haus und die Worte
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