Nichts als Erlösung
ihr, wirft sich darauf. Ohne zu denken, ohne zu zögern. Wie laut so ein Schuss ist, wie verdammt laut.
Du verstehst nichts, verstehst überhaupt nichts. Ich bin enttäuscht von Dir, nein, ich bin wütend! Warum bist Du so blind? Dein Kollege ist viel weiter als Du, er hat bereits etwas Wesentliches begriffen.
Und Du, was tust Du? Du fliegst zu ihr, dieser Frau, die sein Kind im Leib trägt. Gut, ich gebe es zu: Vielleicht ist es auch das, was mich wütend macht. Du bist einfach weg, und ich habe nicht einmal gewusst, dass sie schwanger ist. Damit habe ich nicht gerechnet. Das habe ich nicht mal geahnt. Wut hüllt mich ein wie flüssiges Blei. Es hört nicht auf, hört einfach nicht auf. Das lässt alles noch einmal in neuem Licht erscheinen.
Es wird nun noch schwerer, das musst Du verstehen. Was ich zu tun habe, wird wehtun. Nicht nur mir. Auch Dir.
Keine Kerzen heute für Dich, keine Rosen. Ich habe Dir vertraut, und Du lässt mich im Stich, lässt mich wieder im Stich.
Mittwoch, 5. August
Sie erwacht mit dem Gefühl reinen Glücks. Vom Balkon aus kann sie die Bucht überblicken. Den hellen Strand mit den ordentlich aufgereihten Liegen und Schirmen, einige wenige Pensionen und Tavernen, die Olivenhaine, die die Bucht umschließen, das Bergmassiv des Kerkis, das sich dahinter erhebt. 5:30 Uhr erst, aber sie fühlt sich wie neugeboren, zum ersten Mal seit langem hat sie nichts geträumt. Sie zieht den Bikini an, den sie in Deutschland in letzter Sekunde eingesteckt hat, wirft sich ein Badetuch über die Schulter und läuft zum Strand. Der Sand unter ihren Füßen ist kühl. Ein paar Boote dümpeln am Ufer, das Meer schimmert silbrig und ist so klar, dass sie Fische erkennen kann und bunte Kiesel am Grund, und es ist wunderbar frisch, nicht zu warm, nicht zu kalt.
Sie schwimmt lange, und als sie zurück in ihr Zimmer kommt, wartet auf dem Balkon die Katze auf sie. Jetzt im Hellen erkennt Judith erst, wie lustig sie aussieht. Ihr Kopf ist grau getigert, doch vom Hals abwärts verwischt das Muster zu gelben, orangeroten und braunschwarzen Flecken. Eine dreifarbige Katze, eine Glückskatze. Judith gibt ihr den zweiten Fischkopf, duscht, zieht das schwarze Trägerkleid aus Baumwolle und die Jesuslatschen an, bändigt ihre Haare mit einem blauen Seidenschal und packt ihre Jeans und die Strickjacke zu den Leinen-Chucks in den Rucksack. Die Sonne steigt schnell höher und lackiert den Himmel in kühlem Gelb, irgendwo kräht ein Hahn. In der Taverne nebenan bestellt Judith ein Omelett mit Tomaten und Schafskäse, frisch gepressten Orangensaft und Frappé – schaumig geschlagenen eiskalten Nescafé –, und das Glück hält immer noch an. Ein Gefühl von Leichtigkeit, dass ihr nichts fehlt, überhaupt nichts, nicht einmal Zigaretten. Vielleicht ist ja die Katze dafür verantwortlich, hin und wieder hat sie schon mit dem Gedanken gespielt, eine anzuschaffen, vielleicht sollte sie das tatsächlich tun. Das Geld statt in Tabak in Katzenfutter investieren, wunderlich werden und ihre Fälle und Herzensangelegenheiten mit dieser Katze diskutieren.
Sie lächelt über diese Idee, während Maria Damianidi sie zu Lea Wenzel fährt, und der Schock ist deshalb umso größer, denn kaum sind sie dort angekommen, sieht sie das Pferd. Ein Schimmel, wie in ihren Träumen, prüfend hebt er den Kopf und wittert. Omen oder Zufall oder Halluzination? Sie zwingt sich, auszusteigen und das Anwesen mit dem Blick der Polizistin zu betrachten: ein gedrungenes Steinhaus mit grün getünchten Läden und Türen. Eine überdachte Veranda mit Holztisch und Stühlen und Hängematte. Scheune und Schuppen. Uralte, knorrige Oliven, die alles mit lichthellen Schatten überziehen. Ein Maultier trottet zu dem Schimmel, beide Tiere schauen zur Veranda hinüber, wo im nächsten Moment Lea Wenzel erscheint. Sie lebt also, sie ist tatsächlich hier, so wie Maria Damianidi das versprochen hat. Das zumindest ist eine gute Nachricht. Zikaden sägen, der ganze Hain ist ein einziges Sirren und Rufen, während Judith auf Lea Wenzel zugeht, fällt ihr das plötzlich auf.
Die richtigen Worte finden. Wie oft hat sie schon mit Angehörigen von Opfern gesprochen und sich gewünscht, dass es einen Trick gebe, geeignetere Worte, Fragen, die nicht wehtun, jedenfalls nicht so sehr. Aber es geht niemals gut, egal, wie man es anstellt. Weil nicht die Worte unerträglich sind, sondern die Tatsachen. Man kann nur versuchen, das zu respektieren.
»Bitte«, sagt Lea Wenzel,
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