Nichts als Erlösung
die Zikaden zu rufen, hüllen sie ein mit ihrem Gekrächze. Lea stützt ihr Kinn in die Hände und starrt runter aufs Meer. Sie wirkt anders als in ihrem Haus, mehr bei sich, als wiege die Trauer nicht mehr ganz so schwer. Als sei sie nun stark genug, sich zu erinnern.
Vier Stunden lang hat Judith Jonas’ Arbeitszimmer durchsucht. Den Schrank und die Schreibtischschubladen, sogar die Dateien in seinem Computer. Doch das Ergebnis ist mager. Lea hatte recht. Jonas hat tatsächlich kaum etwas aufgehoben, das ihn an Deutschland erinnert. In einem Ordner befanden sich die nötigsten Zeugnisse, Urkunden und Dokumente, ein Testament, in dem er Lea sein Vermögen vermacht. In einem flachen Karton ein paar Fotos, die offenbar aus einem Album herausgerissen wurden. Ein einziges Foto von seinen Eltern, einige von ihm und Miriam als Kinder und Teenager, ein paar zeigen ihn mit seinem VW-Bus, in dem er am Bodensee lebte. Aber er hat kein Foto vom Kinderheim Frohsinn aufbewahrt, keins von dem Haus in Hürth und auch keine Briefe, mit Ausnahme mehrerer Postkarten von Miriam. Die letzte war eine Einladung zu ihrem 21. Geburtstag, geschrieben mit runder Mädchenschrift. Er solle doch kommen, sie müsse ihm so viel erzählen. Er würde sich freuen für sie, ganz bestimmt.
»Wir sind manchmal abends hierhergeritten«, sagt Lea leise. »Jo auf Koios und ich auf Silber.«
Koios, das Maultier, benannt nach einem griechischen Titanen, und Silber, das Pferd, das in ihren Träumen erschienen ist, noch bevor sie von seiner Existenz überhaupt etwas wusste. Judith will nicht darüber nachdenken, sich nicht einmal ansatzweise fragen, wie das möglich sein kann und was daraus folgt. Für sie, für den Fall, für ihr Leben. Für das, was man in ihrem Beruf als Fakten und Beweise bezeichnet, als Wirklichkeit.
»Wenn wir mehr Zeit hatten, sind wir manchmal noch weiter geritten«, Lea macht eine unbestimmte Handbewegung in Richtung des hellen Gebirgsmassivs, das sich zu ihrer Rechten erhebt. »Wir hatten einen Unterschlupf, ein lange verlassenes Olivenerntehaus, das Jo wiederhergerichtet hat. Manchmal blieben wir über Nacht. Nur wir zwei, ganz allein, ohne dass jemand uns finden und stören konnte.«
Tränen laufen Lea übers Gesicht. Sie macht keine Anstalten, sie wegzuwischen, sitzt sehr still und blickt weiter auf die Ägäis, die zu leuchtend blau ist angesichts dieser Trauer, viel zu schön. Aber vielleicht ist es auch anders, denkt Judith, vielleicht ist diese lichtflirrende Weite überhaupt die einzige Möglichkeit, Schmerz zu ertragen, gerade weil sie stoisch weiter existiert, sodass alles Menschliche an Bedeutung verliert.
Sie denkt an Manni, die Suche nach den Leichen der Vollenweiders auf dem Gelände des niedergebrannten Heims. Liegen sie wirklich dort, hat Manni recht? Sie checkt ihr Handy, aber der Empfang ist zu unstet. Vielleicht gibt es Neuigkeiten, die sie noch nicht kennt. Jonas hat kein einziges Bild aus dem Kinderheim aufbewahrt, nicht ein einziges. Und seine Schwester stellt sich ein Foto dieses Heims in ihr Schlafzimmer. Warum, was hat das zu bedeuten? Wusste Jonas etwas und seine Schwester nicht, oder war es genau umgekehrt?
»Jonas war ein Geschenk, die Zeit mit ihm. Das habe ich immer so gesehen. Und merkwürdigerweise war mir auch von Anfang an bewusst, dass es kein Geschenk von Dauer war«, sagt Lea sehr leise.
»Sie hatten Angst, dass ihm etwas geschieht?«
»Ich weiß es nicht, ja, vielleicht. Ich kann das nicht richtig erklären.«
»Sie haben vorhin gesagt, dass Jonas hervorragend mit Menschen umgehen konnte, dass er enorm viel Gespür für die Touristengruppen hatte, die er leitete.«
»Ja.«
»Also war er gewissermaßen auch ein Pädagoge. Genau wie sein Vater.«
Lea sieht Judith an. Wachsam, irritiert. »Jo hätte es gehasst, das so zu sehen.«
»Das gehasst? Oder seinen Vater?«
Lea wendet den Blick wieder ab und starrt aufs Meer. »Hans Vollenweider war ein Despot«, sagt sie sehr sachlich. »Natürlich kann man das alles psychologisch erklären, vielleicht ihn sogar bedauern: der Krieg, der ihm seine Familie nahm. Seine eigene Kindheit im Heim. Er war mit Sicherheit schwer traumatisiert. Aber um das zu kompensieren, hat er seine Umgebung tyrannisiert. Alles und alle hat er kontrolliert, damit die Welt sich seinen Regeln fügt.«
Judith denkt an das Haus in Hürth. Die Präsenz des Täters darin, die selbst die Nachbarin fühlt. Ein Täter, der dennoch keine verwertbaren Spuren darin
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