Nichts als Erlösung
jemand bei ihr?«
»Natürlich, ja.« Wieder ein Lächeln.
»Ein Polizist?«
»Glauben Sie, Lea ist in Gefahr?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich muss sie dringend befragen. Und ich möchte nicht, dass ihr etwas geschieht.«
Maria Damianidi nickt. Spricht wieder in ihr Funkgerät.
»Die Pension meiner Tante«, verkündet sie dann in fröhlicher Reiseführermanier und lenkt den Land Rover vor ein zweistöckiges Haus mit Balkonen.
Sand knirscht unter Judiths Schuhsohlen, als sie aussteigt. Das Haus liegt tatsächlich direkt am Strand, doch das Meer ist jetzt nichts als Schwärze. Trotzdem kann sie es hören, und sie weiß, dass es irgendwo weit entfernt an einem unsichtbaren Horizont an den Himmel stößt. Eine grauhaarige rundliche Frau in Kittelschürze führt Judith zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Es ist einfach und sauber. Ein großes Bett, ein Schrank, ein Kühlschrank mit einer Kochplatte darauf, Geschirr, ein Tisch, zwei Stühle, ein Badezimmer mit Dusche.
Judith öffnet die Terrassentür und tritt auf den Balkon. Eine halbwüchsige Katze springt scheinbar aus dem Nichts auf die steinerne Balustrade und mustert sie prüfend, als kenne sie Judith aus einem früheren Leben und habe sehr lange darauf gewartet, sie wiederzusehen.
»Machen Sie sich in Ruhe frisch, dann gehen wir essen«, ruft Maria vom Hof.
Judith streichelt der Katze über den Kopf, die kein bisschen scheu ist, sondern sich an ihre Hand presst und leise miaut. Sie geht nach drinnen und füllt eine Untertasse mit Wasser, schüttet den Inhalt des Milchportionsdöschens dazu, das sie im Flugzeug eingesteckt hatte, eine alte Gewohnheit von früheren Reisen. Sie trägt den Teller hinaus zu der Katze, die sich, ohne zu zögern, darüber hermacht.
Und vielleicht ist es ja das, worauf es vor allem ankommt: dass man auskostet, was sich an Glück gerade bietet, auch wenn man weiß, wie endlich es ist. Später, nach dem Essen, als Maria Damianidi gefahren ist und sie der Katze dabei zuschaut, wie sie einen der Fischköpfe frisst, die sie aus der Taverne für sie mitgebracht hat, denkt Judith das. Sie öffnet eine Flasche Bier, setzt sich auf einen Stuhl, legt die Füße hoch. Immer noch ist die Luft sehr lau, und der Himmel über ihr ist ein Sternenmeer, sogar die Milchstraße kann sie erkennen. Sie trinkt einen langen Schluck Bier, legt den Kopf in den Nacken. Echt sein. Pur. Ohne Pflichten und Rücksichten. Pures Gefühl. Wie viele Momente dieser Art gibt es in einem erwachsenen, westeuropäischen Leben? Eine Fahrt in den Süden fällt ihr ein. Ihre erste Reise alleine ans Meer. Mit dem Interrail-Ticket bis nach Rijeka und von dort mit der Fähre weiter nach Dubrovnik. Sie hatte auf Deck geschlafen und in die Sterne geschaut, so wie jetzt. Sie weiß sogar noch, wie sie damals aussah, denn es gibt ein Foto von dieser Fährfahrt, das sie mit einem langhaarigen Jugoslawen zeigt, der aus heutiger Perspektive eher ein halbwüchsiger Junge ist. Sie hatten sich eine Flasche Wein geteilt, mitten am Tag, und geraucht und versucht, sich mit Händen und Füßen und ein paar Brocken Englisch ihre Leben zu erklären. Sie weiß noch, wie samtig die Luft war, als sie auf der Insel Korcula von Bord gingen, und dass sie nach Salz und nach Pinienharz roch. Und sie weiß noch genau, wie es war, in der Nacht mit dem Jungen ins Meer zu laufen. Dass sie gelacht hatte vor Glück und Salzwasser geschluckt und sich von den Wellen wiegen ließ. Sie war unschlagbar gewesen, nichts und niemand konnte ihr was, und der Tod war eine abstrakte Größe, nein, er existierte noch nicht für sie, war noch kein Dauergast in ihrem Leben. Und der Junge hatte versucht sie zu küssen, natürlich hatte er das, nicht nur das … aber sie hatte nichts von ihm gewollt als diesen Augenblick, genau so, wie er war, und er hatte das akzeptiert.
Die Katze ist jetzt mit dem Fischkopf fertig, putzt sich ausgiebig und springt auf Judiths Schoß.
»Mach’s dir nicht zu gemütlich, ich geh gleich ins Bett«, sagt Judith und streicht ihr übers Fell.
Die Katze antwortet leise und beginnt mit den Vorderpfoten zu treten, rollt sich dann zusammen, ihr kleiner Körper vibriert. Offenbar ist sie wild entschlossen, Judiths Ansage zu ignorieren.
Judith lächelt. Auf einmal ist sie sehr froh, dass sie hier ist, und die Sorge um Lea erscheint völlig unbegründet, ja fast hysterisch, eine Überreaktion.
»Es wird schon gutgehen«, sagt sie zu der Katze und gähnt. »Es ist alles in Ordnung. Du wirst
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