Nichts als Erlösung
hinterlassen hat. Der Hass sitzt sehr tief in dem Haus. Ein alter Hass. Das glaubt sie zu wissen. Was aber folgt daraus? Ist es möglich, dass Jonas’ Vater der Täter ist? Dass er erst Frau und Tochter und dann Jahre später auch noch den Sohn auslöscht – ein Mann, der bald 80 wird? Die altmodische Schreibmaschine, die der Täter benutzt, um seine Briefe an sie zu adressieren, scheint für diese Theorie zu sprechen, doch wenn tatsächlich Vollenweider ihr diese Fotos schickt, was wäre sein Ziel? Warum sollte er den Verdacht auf sein eigenes Haus lenken und damit auf sich? Das ergibt keinen Sinn.
»Johanna Haarer«, sagt Lea. »Sagt Ihnen das etwas?«
»Nein. Sollte es?«
»Johanna Haarer hat Erziehungsratgeber geschrieben. Ihr berühmtester hieß Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Im Nationalsozialismus war das eine Art Bibel, ein echter Bestseller. Für Hitler war Haarer die Topexpertin für alle Erziehungsfragen.« Lea tastet nach ihrem Bauch, streichelt darüber. Eine unbewusste Geste, die dennoch ganz zart ist, ihr Blick liegt noch immer auf dem Meer.
»Aus heutiger Sicht ist Haarers Buch nichts anderes als die systematische Anleitung zur Kindesmisshandlung: den Willen brechen. Gehorsam lernen. Sich fügen vom ersten Tag an. Ein Kind bekommt zu bestimmten Zeiten zu essen, wenn es dazwischen schreit, lässt man es schreien, bis die Zeit für die nächste Mahlzeit gekommen ist. Ein Kind muss lernen, brav allein zu schlafen, zu viel Schmusen und Herumgetragenwerden und Nähe schadet ihm nur. Natürlich muss man das auch politisch sehen: Ein Kind, dessen Willen früh gebrochen wird und das nicht einmal eine enge Bindung zu seiner ersten Bezugsperson entwickeln darf, ist ein labiles Kind, perfekt als Untertan. Ideal also, in einer Diktatur zu kuschen.«
»Und Hans Vollenweider ist so erzogen worden, glauben Sie?«
»Nicht nur er!« Lea lacht auf, es ist mehr ein Krächzen. »Haarers Ratgeber war das einzige Buch aus dem Haus seiner Eltern, das Jonas aufgehoben hatte.«
»Seine Eltern befolgten die Erziehungsregeln aus dem Nationalsozialismus?«
»Damit waren sie nicht allein. Bis weit in die 60er-Jahre galt Haarers Buch in Deutschland als Standardratgeber. Man hat nach 1945 lediglich die Passagen entfernt, die den Nationalsozialismus explizit erwähnten. Das hat Jo mal recherchiert.«
»Wo ist das Buch jetzt?«
»Jo hat es verbrannt, als ich ihm sagte, dass ich schwanger bin.« Wieder lacht Lea ihr bitteres Lachen. »Geisteraustreibung hat er das genannt. Wir haben tatsächlich gedacht, dass das funktioniert.«
»In Miriams Zimmer in Hürth steht ein Foto von dem Heim. Doch Jonas hat nicht ein einziges Bild davon aufgehoben. Wissen Sie, warum?«
»Ich kann nur spekulieren: Miriam wollte verstehen, und Jo einfach nur vergessen?«
Immer noch streicheln Leas Hände über ihren Bauch. Schöne Hände, schlank und gebräunt, mit kurz geschnittenen Nägeln.
»Jonas hat sich große Vorwürfe gemacht, dass er in jener Nacht gefahren ist«, sagt Lea. »Er hat gedacht, wenn er dageblieben wäre, würde Miri noch leben. Er war ja überhaupt nur ihretwegen gekommen.«
»Sie wollte ihm etwas erzählen, nicht wahr? Das hat sie auf ihrer Einladung geschrieben.«
»Sie hatte einen Freund. Darum ging es. Sie war sehr verliebt.«
»Felix Schmiedel aus ihrer Nachbarschaft. Aber der war damals mit Freunden zum Surfen am Gardasee. Sehr verliebt klingt das nicht.«
»Ich weiß es nicht. Kann sein. Den Namen hat Miriam Jo nicht verraten. Sie machte ein großes Geheimnis daraus. Wie alt war dieser Felix denn?«
»So alt wie sie.«
»Dann war das vielleicht nicht der Freund, von dem Miriam erzählte. So wie Jonas sie verstand, war dieser Freund schon älter, und er lebte nicht in Hürth. Er hatte ihr eine Kette geschenkt. Wertvoll. Aus echtem Gold.«
Ein geheimer Freund. Älter. Eine goldene Kette. Das passt überhaupt nicht zu dem billigen Modeschmuck in Miriams schulmädchenhaftem Zimmer. Oder passt es gerade deswegen? War dieser Freund, wenn es ihn denn wirklich gab, für Miriam eine Vaterfigur? Sie müssen diesen Freund finden. Einen weiteren Unbekannten, ein weiteres Rätsel.
»Warum hat Jonas meinen Kollegen damals nichts von diesem Freund erzählt?«
Lea zieht die Schultern hoch, scheint dabei zu schrumpfen. »Ich weiß es nicht, das habe ich ihn nie gefragt.«
»Wir haben so eine Kette nie gefunden.«
»Miriam hat die Kette nicht getragen, wenn sie zu Hause war. Selbst an ihrem Geburtstag hat sie
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