Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
Intimsphäre in einer Polizeiermittlung, auch nicht für die, die unschuldig sind.
    Gab es besondere Vorkommnisse im Heim? Eklats? Streitereien? Wurde eines der Kinder besonders grausam oder häufig gequält oder bloßgestellt? Lea schüttelt den Kopf, wieder und wieder, ihr Blick irrt zum Meer, dann zum Haus, bleibt schließlich an dem Olivenbaum hängen, unter dem der Schimmel und sein dunkler Schatten, das Maultier, stehen und unverwandt zu ihnen herübersehen.
    »Da war manchmal so eine Stille um Jonas«, sagt sie nach einer langen Pause, sagt es mehr zu den Tieren als zu Judith. »Fast wie ein Mantel. Das war es wohl auch, was uns in die Berge zog. Die Stille wog leichter dort oben, sie passte dorthin.«
    »Aber Sie haben doch sicher nicht immer nur geschwiegen, irgendetwas aus seiner Kindheit hat Jonas Ihnen bestimmt erzählt.«
    Lea antwortet nicht, regt sich nicht, sitzt wie versteinert. Judith lehnt sich vor, sieht die Blässe unter Leas dunkelbraunem Teint, erkennt winzige Schweißperlen an ihren Schläfen. Auf einmal merkt sie, wie müde sie selber ist, müde und hungrig und seltsam leer. Sie will diese Frau, die schon so viel verloren hat, nicht so quälen müssen. Sie will die Leichtigkeit wiederhaben. Den Balkon und den Strand und die lustige Katze, und sie sehnt sich nach Karl.
    »Jonas und Miriam lebten Tür an Tür mit den Kinderheimkindern, und sie besuchten dieselbe Schule«, sagt sie trotzdem.
    Immer noch reagiert Lea nicht. Ihre eigenen Eltern sind vor neun Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, hat sie auf dem Rückweg von den Klippen erzählt. Geschwister hat sie keine, auch ihre Großeltern sind schon lange tot. Vielleicht sei es ihr auch deshalb so leichtgefallen, nach Griechenland zu ziehen. Von null anfangen, sich ein neues Leben aufbauen, eine neue Familie, mit einem Mann, der bis dahin genauso allein gewesen war wie sie.
    Judiths Unruhe wächst, das Gefühl, auf etwas zuzusteuern, immer schneller, ohne erkennen zu können, worauf. Wusste Jonas von dem Kindergrab unter dem Gemüsebeet, war er deshalb so still? Doch warum hätte er diese Ungeheuerlichkeit für sich behalten sollen? Er hatte sich mit seinem Vater überworfen, hatte ihn gehasst, er war sogar davon überzeugt, dass sein Vater seine Schwester und Mutter umgebracht hatte. Wenn er also etwas von dem Kindergrab wusste, warum hat er das weder der Polizei noch der Frau, die er liebte, gesagt?
    Lea hebt den Kopf, es sieht aus, als erwache sie aus tiefer Trance. »Ihr habt es besser als die, also benehmt euch«, sagt sie mit einer seltsam harten Stimme. »Das war der Standardspruch, den Jonas und Miriam in Bezug auf die Heimkinder hörten.« Sie dreht sich zu Judith herum, sieht ihr zum ersten Mal, seitdem sie wieder auf der Veranda sitzen, in die Augen. »Besser! Letztendlich hieß das doch nur Zucht und Ordnung in einem intimeren Rahmen. Aber niemals hat Jonas erzählt, dass sein Vater die Kinder …« Sie schafft es nicht, weiterzusprechen, verbirgt ihr Gesicht in den Händen.
    »Und Jonas’ Mutter?«
    Auf einmal ist diese Frage da, und im selben Moment begreift Judith, dass sie wichtig ist. Eine neue Frage, die sie noch nicht gestellt haben, weder Manni noch sie.
    »Soweit ich weiß, hat seine Mutter sich niemals gegen ihren Mann gestellt«, sagt Lea. »Aber sie war kein Unmensch, mit ihr hatte Jonas jedenfalls nicht solche Konflikte wie mit seinem Vater.«
    »Und was heißt das konkret?«
    »Ich weiß es nicht. Ich spekuliere nur. Natürlich kann auch seine Mutter die Kinder im Heim gequält oder hart angefasst haben. Auch Frauen sind keine Engel. Denken Sie an diesen Erziehungsratgeber von Johanna Haarer.«
    Das ist zu wenig, viel zu allgemein. Doch mehr kann oder will Lea nicht sagen. Es ist offensichtlich, dass sie am Ende ihrer Kräfte ist. Eine Freundin ist auf dem Weg zu ihr, eine schwedische Ärztin, die im benachbarten Ferienort Kampos eine Praxis führt. Also muss Lea zumindest in dieser Nacht nicht alleine sein. Also kann ihr zumindest in dieser Nacht nichts geschehen. Ihr und dem Kind. Gibt es überhaupt eine Gefahr für sie, hier auf Samos? Nichts, was sie bislang über den Täter wissen, spricht dafür, dass er jemals hier war oder hierherkommen könnte. Und doch ist das keine Beruhigung, kann keine Beruhigung sein, solange sie nicht einmal richtig begreifen, worum es in diesem Fall überhaupt geht.
    Wieder fährt Maria Damianidi Judith an der Küste entlang. Wieder ist der Himmel über dem Meer fast

Weitere Kostenlose Bücher