Nichts als Erlösung
golden, vollkommen irreal. Am Flughafen erfährt Judith, dass sie erst einen Platz in dem 23-Uhr-Flug nach Köln bekommen hat.
»Dann fahre ich Sie noch schnell nach Pythagorio, und Sie essen dort zu Abend«, verkündet die griechische Polizistin und setzt wieder ihr Touristenführer-Lächeln auf. Doch es wirkt nicht mehr so strahlend wie am Abend zuvor, nicht mehr so selbstverständlich. »Immer die Nazis«, sagt sie zum Abschied. »Immer noch müssen wir mit ihrem Schatten leben, egal, ob in Deutschland oder hier.«
1943 hat eine deutsche Fliegerstaffel Samos bombardiert. Zuvor hatten die faschistischen Besatzer in den Bergen der Insel schon griechische Partisanen massakriert. Doch die Spuren davon sind längst unsichtbar. Der Ort Pythagorio entpuppt sich als weißes Touristenidyll, das sich um ein rundes Hafenbecken schmiegt. In einer Taverne am Wasser isst Judith gegrillten Fisch und trinkt ein Glas Wein. Ihre Füße in den Jesuslatschen sind staubig von diesem langen Tag, ihr Kleid ist verschwitzt, die Müdigkeit kommt mit Macht zurück, doch zugleich ist sie angespannt, als ob sie auf etwas anderes warte als auf ihren Flug. Sie ruft Karl an, erreicht jedoch nur seinen Anrufbeantworter. Sie weiß, dass sie auch ihre Mutter anrufen müsste, ihr versprechen, dass sie zumindest versuchen wird, zum 75. ihres Stiefvaters nach Frankfurt zu kommen. Ihm die Ehre erweisen, wie ihre Mutter das nennt. Sie sucht die Nummer im Handy heraus, betrachtet sie auf dem Display, schafft es nicht, sie zu wählen. Jemand lacht neben ihr. Aus den Lautsprecherboxen des Restaurants dudelt Sirtaki. Paare schlendern vorbei. Eine junge Familie. Vater und Mutter, Sohn und Tochter, Eis essend, glücklich.
Judith bezahlt ihre Rechnung und beginnt zu laufen, weg von den Souvenirläden und Tavernen und Touristen. Eine schmale, mit weißem Naturstein gepflasterte Straße führt entlang niedriger weißer Wohnhäuser schnurgerade zu einer Festung hinauf. Rosa glühende Oleanderbäume säumen sie. Eine Katze huscht vor Judith her und verschwindet in einem Hauseingang. Stille empfängt sie auf dem Gelände der Festungsruine. Hinter einem Spalier aus Zypressen mit weiß gekalkten Stämmen verbirgt sich ein Friedhof, dahinter leuchtet das Meer, tiefdunkelblau im letzten Licht.
Die Grabstätten sind aus weißem Marmor gemauert, genau wie die Kreuze. In gläsernen Vitrinen präsentiert jedes Grabmal ein ewiges Licht, Blumen aus Plastik und ein Bild des Verstorbenen. Feierliche Porträts die einen, Schnappschüsse die anderen, manche beginnen bereits zu verblassen. Eine Frau um die 40 in dunklem Kleid guckt regelrecht trotzig. Als sei dieses Foto auf ihrem Grab ein Irrtum, ihr ganzes Leben vielleicht und auch ihr Tod. Das aufwendigste Grab gehört einem Mann, der nur 23 Jahre alt wurde. Ein geliebter Sohn, arglos und pausbäckig, doch für all die Putten und Elfen und gläsernen Windspiele auf seiner letzten Ruhestätte würde er sich sicher schämen. Aber so ist es ja immer, die Gräber sind ein Ort für die Lebenden, viel mehr als für die Toten. Ich kann Jonas doch nicht unter einer Marmorplatte begraben, hat Lea gesagt. Er wollte doch immer frei sein, er liebte den Wind.
Eine Kirchenglocke erklingt, dünn und zittrig, wie von Hand geschlagen, fremd. Unwirklichkeit, wieder dieses Gefühl. Als sei sie aus der Zeit gefallen, oder aus der Welt. Als würden Traum und Wirklichkeit verschmelzen. Judith verlässt den Friedhof und steigt über steinerne Treppen zur Festung hinauf. Jenseits der Bucht erkennt sie die Startbahn des Flughafens. Sie setzt sich auf eine Mauer und schlingt die Arme um die Knie. Was waren das für Kinder, auf deren Gebeine Manni gestoßen ist? Wie sind sie gestorben, warum gibt es keine Erinnerung an sie, keinen einzigen Stein, nicht einmal Namen? Ihr habt es besser als die, hört sie Lea sagen. Sie muss sich in Köln das Buch dieser Johanna Haarer besorgen, sie muss herausfinden, ob es wirklich beschreibt, wie man Kinder zu Untertanen formt, und ob es tatsächlich möglich ist, dass dieses Nazimachwerk in Deutschland bis weit in die 60er-Jahre hinein ein Standardwerk zur Kindererziehung war. Sie denkt an das Haus der Vollenweiders in Hürth, an die Präsenz des Täters dort, einen Nachhall seiner Gewalt, den sie in diesem Haus förmlich zu spüren glaubte, vielleicht war es auch die Angst der Opfer. Ist tatsächlich Hans Vollenweider der Täter, den sie jagen? Hat er nicht nur die Heimkinder, für die er zu sorgen hatte,
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