Nichts als Erlösung
ich einfach nur stocksteif im Bett liegen musste und warten. Ich erinnere mich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre. Diese Schritte von ihr. Eine Art Schlurfen. Hartgummi auf Holz. Plock-zsch. Plock-zsch. Der Geruch von Trockenshampoo und Kölnischwasser. Eine Hand, die mir die Decke wegreißt. Manchmal pinkelte ich dann erst los, in genau diesem Moment. Einfach nur, weil ich die Anspannung nicht mehr aushielt.
Und dennoch gab ich in den ersten Jahren nicht auf. Weil ich Hoffnung hatte. Weil ich darauf wartete, dass sie zurückkommen und mich holen würde. Und ich hatte ja ihr Bild, mein Heiligtum.
Du hast recht, ja, natürlich. Ich hätte wissen müssen, dass auch das kein Schutz von Dauer war.
Donnerstag, 6. August
Die Luft ist anders hier, zäher, und sie riecht nicht nach Meer. Aber Karl liegt neben ihr, in ihrer Wohnung, in ihrem Bett. Karl, der sie mitten in der Nacht am Flughafen abgeholt hat. Sie rückt näher zu ihm, fühlt seinen Körper an ihrem, ihr Begehren.
Karl zieht sie auf sich, liebkost sie, lächelt mit geschlossenen Augen. »Hast du mich vermisst?«
»Du mich etwa nicht?« Sie atmet den Duft seiner Haut, greift in sein Haar, schickt ihre Finger auf die Reise. »Und ob du mich vermisst hast«, flüstert sie ihm ins Ohr.
»Wie du das nur bemerkst.« Er lacht auf, fasst sie fester an, wissender, lässt sie weich werden, weich, bringt sie zum Schmelzen.
Nicht aufstehen müssen. Nicht ermitteln. Keinen Tod kennen, keinen Schmerz, wenigstens für diesen einen Morgen nichts anderes fühlen als Lust und die Trägheit danach. Gehalten werden. Geborgen sein. Es funktioniert nicht, funktioniert auch diesmal nicht. Ihr Handy reißt sie zurück in die Wirklichkeit, der erste Anruf des Tages, der nicht der letzte sein wird. Millstätt erwartet ihren Report. Die KTU will sie sprechen. Manni. Schneider. Sie quält sich hoch, stolpert unter die Dusche, merkt, wie zerschlagen sie noch ist. Gerade einmal drei Stunden hat sie geschlafen.
Traumlos, als sei sie in ein dunkles Loch kollabiert. Jetzt aber kommen die Erinnerungen zurück, überfluten sie förmlich: die toten Kinder. Das Pferd. Die Zikaden. Was Lea gesagt hat. Die Lehren der Johanna Haarer. Die Rolle der Mütter. Das verlorene Bild eines unbekannten Jungen. Seine Verzweiflung. Was für ein Bild war das? Ging es verloren, oder wurde es gestohlen? Noch vor dem Start des Flugzeugs hat sie Lea angerufen und dazu befragt, bis ein Steward damit drohte, ihr Handy zu konfiszieren. Doch auf keine ihrer Fragen wusste Lea eine Antwort. Nur dass der Junge wohl monatelang verzweifelt war und dass die Erzieher dazu angehalten wurden, diese ›Hysterie‹ nicht zu dulden, habe Jonas erzählt, sagte sie. Doch Jonas ist tot, was damals genau geschah, wird sich nun vielleicht nie mehr klären lassen. Und vielleicht ist es ohnehin irrelevant, vielleicht ist es nicht einmal von Bedeutung für diese Ermittlung.
Ihr Kühlschrank ist leer, nicht einmal Milch für den Kaffee hat sie, nur ein paar Flaschen Bier, ein Stück Parmesan und drei schrumpelige Karotten. Tag 57 ohne Zigarette. Warum fällt ihr das jetzt ein, wer zählt da in ihr? Das Verlangen nach Nikotin ist gemildert, die akute Verzweiflung des Entzugs. Doch die Sucht ist noch da, ist noch längst nicht besiegt. Sie zieht eine saubere Jeans an, stellt die Jesuslatschen wieder ins Regal, quält ihre Füße stattdessen in Converse-Chucks. Dieselbe Marke, die auch Jonas trug. Angesagt. Jugendlich. Was natürlich kein Schutz ist, keine Garantie für das Glück oder ein langes Leben. Ändert es irgendwas, wenn Lea ihren Geliebten nicht unter Marmor begraben wird, sondern im Meer? Nein. Ja. Vielleicht für Lea. Dem toten Jonas Vollenweider ist es vermutlich egal.
Judith schultert ihre Umhängetasche und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Obwohl sie kaum mehr als 24 Stunden auf Samos war, kommt es ihr vor, als sei sie von einer langen Reise zurückgekehrt und brauche Zeit, sich wieder einzugewöhnen. Unten im Hausflur ragt die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Sie zieht sie heraus, schließt den Briefkasten auf, an die Post hat sie in der Nacht nicht gedacht. Sie erkennt das Kuvert sofort, die auf ungute Art vertraut gewordenen Lettern, merkt, wie sich etwas in ihr zusammenzieht.
Er weiß, wo ich wohne, wie kann er das wissen? Weil er mir gefolgt ist? Sie schlägt den Briefkasten wieder zu. Das Scheppern hallt durch den hohen Flur. Wann ist dieser Brief gekommen? Nicht heute, es ist noch ganz früh,
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