Nichts als Erlösung
umgebracht, sondern auch seine Familie?
Die Dunkelheit kommt jetzt sehr schnell, Dunst kriecht übers Meer, jenseits der Bucht blinken die Positionsleuchten des Flughafens auf. Ein Ferienjet hebt ab, zieht eine Kurve über dem Meer und verschwindet aus Judiths Sichtfeld. Wind streichelt ihre Haut, immer noch warm, immer noch würzig, erinnert sie wieder an den Sommer in Jugoslawien. 1984 war das, sie war gerade 18 geworden, zwei Jahre vor dem blutigen Drama im Haus der Vollenweiders, das vielleicht ein außer Kontrolle geratener Familienkonflikt war, vielleicht aber auch nicht.
Sie denkt an ihre Mutter und an ihren Stiefvater, Wolfgang Krieger. Der Mann, dessen Nachnamen sie trägt, der einzige Vater, den sie bewusst erlebt hat. Der sie erzog, der mit ihrer Mutter die Zwillingsbrüder zeugte, der ihr das Studium finanzierte und trotzdem für sie ein Fremder ist. Unverstanden und ungeliebt, so hatte sie sich in ihrer Familie gefühlt. Unpassend. Außen vor. Das fünfte Rad am Wagen. Wahrscheinlich tat das sehr weh, aber sie hatte nicht geweint, jedenfalls nicht, wenn sie hinsahen, sie hatte rebelliert. Da war etwas, was sie dazu trieb. Ein Stachel. Das Schweigen ihrer Mutter, vielleicht war es das. Ein Schweigen über alles, was vergangen war. Ihre Kindheit im Krieg in ärmlichsten Verhältnissen. Der Tod ihres ersten Ehemanns, Judiths leiblichem Vater, der 1969 auszog, um gemeinsam mit Millionen anderen Hippies die Welt zu retten, und niemals zurückkehrte, weil er in Nepal erfror. Hatte Eva Krieger ihn jemals betrauert? War sein Tod für sie mehr gewesen als der Verlust eines vermeintlich sicheren Hafens, in den sie mit ihrer Heirat hatte einlaufen wollen? Falls es so war, hatte sie dies zu verbergen gewusst, denn die einzigen Gefühle, die Judith in ihrem Schweigen zu erspüren glaubte, waren Enttäuschung und Wut. Aber vielleicht lag doch mehr darin, vielleicht sogar Liebe. Der Gedanke ist unbequem. Neu. Er tut weh, ohne dass Judith begreift, warum.
Sie schultert ihren Rucksack, läuft zurück ins Getümmel am Hafen. Leben und Leichtigkeit, auf einmal giert sie danach. Die letzte Stunde auf Samos. Sie will sie auskosten, in die Länge ziehen. Sie bestellt sich Retsina und Wasser, trinkt in kleinen Schlucken und betrachtet die schaukelnden Jachten und Fischerboote. Selbst die Sirtaki-Musik nervt sie jetzt nicht mehr, und vielleicht hört sie ihr Handy deshalb nicht, vielleicht ist auch der Empfang so schlecht, dass der Anruf Lea Wenzels direkt auf die Mobilbox geleitet wird. Jedenfalls bemerkt sie ihn erst, als sie schon im Flugzeug sitzt und ihr Handy ausschalten will.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagt Lea. »Es gab da mal irgendein Drama um ein Bild. Ich kann mich nicht mehr genau dran erinnern, auch Jonas wusste das nicht ganz genau. Aber es war offenbar außerordentlich erschütternd. Der Junge, dem das Bild gehört hatte, war wohl sehr verzweifelt. Das Bild ging verloren, glaube ich.«
3. Teil
BESINNUNG
Sie graben jetzt. Graben beim Heim. Ohne Dich. Dein Kollege ist wirklich gut, und er ist schnell. Techniker, Leichenspürhunde, Rechtsmediziner, das ganze Programm hat er aufgefahren.
Graben, im Dreck wühlen. Sollen sie doch. Sollen sie ruhig ans Licht bringen, was dort zu holen ist.
Aber die Wahrheit werden sie doch nicht ermessen können. Niemand kann das, niemand, der nicht dort leben musste. Kinderheim Frohsinn. Allein dieser Name ist grauenhaft falsch.
Ich weiß schon, was in den Zeitungen stehen wird, dasselbe wie immer: Zuerst geht es um Missbrauch. Dann um Züchtigungen. Sex und Gewalt, darauf stürzen sie sich, danach geiern sie alle, bis zum nächsten Skandal, der noch grausamer ist, noch schmutziger und noch perverser.
Aber weißt Du, man muss Kinder gar nicht vergewaltigen und verprügeln, um sie zu zerstören. Man kann ihren Willen auch auf andere Weise brechen. Langsamer zwar, aber dafür endgültig. Eine Art schleichende Deformation.
Mich haben diese kleinen, alltäglichen Demütigungen zermürbt. Weil sie so selbstverständlich waren, so allgegenwärtig. Wie oft sie mich auslachten. Wie oft sie mich bloßstellten. Wie sie über mich sprachen. Ihr Hohn, wenn ich wieder mal nicht genügte oder einfach nur ein bisschen eigen war. Ihre Verachtung für alles, was nicht passte. Dreckslümmel. Nichtsnutz. Hurensohn.
Nachts war es am schlimmsten, dann wuchs meine Angst ins Unermessliche. Wenn ihre Schritte näher kamen und es keinen Ort mehr gab, wo ich mich verstecken konnte. Wenn
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