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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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nicht einmal sieben. Gestern also, während sie in Griechenland war. Sie läuft wieder hoch in ihre Wohnung, kramt aus den Tiefen des Küchenschranks die Butterbrottüten aus Pergamentpapier hervor, die sie irgendwann gekauft hatte, weil sie gesunde Vollkornbrote mit ins Präsidium nehmen wollte, was dann doch niemals klappte. Sie reißt eine Tüte aus der Packung und trinkt ein Glas Wasser, versucht sich zu beruhigen. Atmen, nur atmen, sie braucht Sauerstoff, kein Nikotin, auch wenn ihr Körper das noch nicht kapiert. Der Brief ist mit der Post gekommen, er war frankiert, so viel hat sie erkannt. Der Täter ist nicht hier, war nicht hier, wird nicht hierherkommen. Heute nicht, nie.
    »Judith?«
    Sie zuckt zusammen, sie hatte Karl für einen Moment ganz vergessen.
    »Was ist passiert?« Er tritt in die Küche, nackt und verletzlich.
    »Schon wieder ein Brief.«
    »Mit einem Foto?«
    »Die KTU wird ihn öffnen.« Sie stellt das Wasserglas ins Spülbecken und geht auf ihn zu. Karls Wärme hüllt sie ein, sein Brusthaar kitzelt an ihrer Wange. Sie lässt ihre Hände über seinen Rücken gleiten, atmet seinen Duft, fühlt sich für ein paar Sekunden geborgen. Mit Karl ist sie ruhig, weil er sie sein lässt, wie sie ist. Auch auf Samos war sie ruhig, frei hat sie sich dort sogar gefühlt, erleichtert. Weil der Täter nicht dort war, auf einmal wird ihr das klar. Weil er sie dort nicht beobachtet hat.
    Sie löst sich von Karl und läuft wieder nach unten. Öffnet den Briefkasten und schiebt das Kuvert mit der Schlüsselspitze in die Tüte. Ihre Ente steht direkt vor der Haustür. Judith öffnet das Faltdach, kauft sich am Kiosk gegenüber ein belegtes Brötchen und einen Milchkaffee, isst ein paar hungrige Bissen, bevor sie die Ente startet. Im CD-Player steckt noch ihre neueste Errungenschaft: Angus und Julia Stone, zwei australische Geschwister, die wie Hippies aussehen und auch fast so klingen, wenn sie vom Unterwegssein singen und von der ewigen Suche nach besseren Welten, nur etwas lässiger und moderner als die alten Barden.
    Won’t you help me be on my way, so I can set me free. Freiheit, schon wieder. Die Melodie und die Worte klingen in ihr nach, nachdem sie geparkt und den CD-Player ausgeschaltet hat, begleiten sie in den Keller der Kriminaltechnik.
    »Er benutzt eine mechanische Reiseschreibmaschine mit Typenhebel und Karbonband. Eine Lettera 22 der Marke Olivetti, um genau zu sein«, verkündet Klaus Munzinger mit sichtbarem Stolz, nachdem sie ihn begrüßt hat. »Das ›e‹ hängt ein bisschen, das ›m‹ schliert, und beim ›i‹ hämmert der i-Punkt so stark, dass er das Papier ansatzweise perforiert.«
    »Das heißt also, du könntest diese Schreibmaschine eindeutig identifizieren.«
    »Sobald du mir die Maschine bringst, ja.«
    »Wie alt ist die ungefähr?«
    »Auf den Markt kam dieses Modell 1949. Die Lettera 22 war damals revolutionär: sehr leicht, nicht mehr schwarz wie alle Vorgänger, sondern pistaziengrün.« Er zeigt ihr ein Foto. »Ein echter Bestseller wurde die Lettera damals. Sie bekam sogar einen Designpreis.«
    Eine Schreibmaschine, die nicht aus dem Krieg stammt, also nicht aus der Ära des Nationalsozialismus. Was sagt das über den Benutzer aus? Gar nichts vielleicht. Er kann die Maschine geerbt oder irgendwann in den 50er- oder 60er-Jahren gekauft haben – oder erst vor kurzem auf einem Flohmarkt oder bei eBay. Sie gibt dem Kriminaltechniker den eingetüteten Brief. Er betrachtet ihn mit gefurchten Brauen, trägt ihn zu einem Untersuchungstisch, zieht Handschuhe und Mundschutz an, schaltet das Licht ein, beugt sich darüber.
    »Der wurde in Darmstadt abgestempelt«, sagt er nach einer Weile.
    Darmstadt – das ist in Hessen, in der Nähe von Frankfurt, wo ihre Mutter sie morgen zur Geburtstagsfeier erwartet. Warum denn Darmstadt, verdammt noch mal, was hat der Täter dort zu suchen? Sie ruft Millstätt an und erklärt, wo sie ist und dass sie noch abwarten will, bis Munzinger den Brief geöffnet hat. Kurze Zeit später kommt ihr Chef mit Schneider und Meuser im Schlepptau herunter.
    »Wo ist Manni?«, fragt sie.
    »Unterwegs mit Ekaterina.« Millstätt mustert sie. »Woher kennt unser Briefschreiber deine Privatanschrift?«
    »Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht aus dem Telefonbuch.«
    Sie glaubt die Nähe des Täters beinahe physisch zu spüren, fast so wie im Haus der Vollenweiders, als sei er ganz nah. Was ist in dem Brief, was schickt er ihr diesmal? Sie will das wissen,

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