Nichts als Erlösung
jahrzehntelanger Vertuschung heute unbestritten, bestätigte Elke Schwab vom Jugendamt. Allerdings sei das Haus Frohsinn nachweislich kein Zentrum der NS-Vernichtungsmaschinerie gewesen. Und das Schicksal der toten Kinder könne man nicht rekonstruieren, falls es im Heim Frohsinn überhaupt dokumentiert worden sei, wären die Unterlagen wohl 1981 verbrannt.
Was hatte Hans Vollenweider mit dem Kindergrab zu tun? Liegen darin womöglich seine Opfer und nicht die der Nazis? Er selbst kam erstmals im Herbst 1945 in das Heim, als der braune Spuk schon vorüber war, und er war damals 15, ein Junge, der seine Familie verloren hatte, so viel wissen sie mit Sicherheit. Vielleicht verbirgt sich in seinem Wohnhaus doch ein Hinweis auf die toten Kinder, den sie bislang übersehen haben: ein Bild. Ein Brief. Eine Namensliste, eine Notiz. Irgendwas, das man einfach nur finden muss.
GEKRAT hieß die NS-Organisation, die die Kinder in den grauen Bussen zur Tötung abholte, hat er in der Nacht recherchiert. Gemeinnützige Krankentransport-Gesellschaft – was an Zynismus kaum zu überbieten ist. Er fasst seine Erkenntnisse für Ekaterina Petrowa zusammen, zählt ihr die Nazimordmethoden auf. Gift oder Gas. Medizinische Versuche mit Krankheitserregern oder Elektroschocks. Verhungern.
»Gift könnte ich eventuell nachweisen«, sagt sie, als er geendet hat.
»Sonst nichts. Auch nicht Verhungern?«
Sie schüttelt den Kopf, starrt auf die Werbung eines Fast-Food-Restaurants am Straßenrand, die alles in XXL-Größe verspricht, zu einem Hammerpreis.
Ein Schwall lauwarmen Fahrtwinds streicht in den Wagen, er hat nichts Erfrischendes, eher im Gegenteil, auch als sie Köln endlich hinter sich lassen, ändert sich das nicht. In Hürth biegt er nach rechts ab, schlängelt sich durch das nun schon fast vertraute Wohngebiet. Hin und her, her und hin. Der Fall artet mehr und mehr zu einem Wettrennen aus, das man nicht gewinnen kann, weil der Gegner immer schneller ist, wie der gerissene Igel in dieser Fabel. Und das ist erst der Anfang, die Befragung Hunderter ehemaliger Heimkinder steht ihnen noch bevor.
Die Straße, in der die Vollenweiders wohnten, wirkt auch heute verlassen, menschenleer, genauso wie das Haus. Er schaltet den Motor aus und betrachtet die ockerfarbene Fassade, das schmiedeeiserne Tor, den mit Waschbetonplatten gepflasterten Gartenweg. War dies das Heim eines Massenmörders oder nur der Schauplatz eines Verbrechens? Das Haus selbst gibt das nicht preis, immer ist das so. Er hat schon Mörder verhaftet, die sich hinter Spitzengardinen verschanzten, einer teilte sein Bett sogar mit einem Teddy aus Plüsch. Auch Hitler war tierlieb und mochte die Berge.
»Bei uns gab es auch Kinderheime«, sagt Ekaterina leise, fast so, als spräche sie nur zu sich selbst. »Stalin war auch nicht besser als Hitler. Wer nicht passte, wurde vernichtet. Oder in staatlichen Anstalten umerzogen, wenn man sich davon einen Nutzen versprach.«
Sie wendet den Kopf, sieht ihm zum ersten Mal an diesem Morgen direkt in die Augen.
»Stalin war ein Teufel. Niemand weiß das besser als mein Volk.«
»Dein Volk?«
»Die Samen«, sagt sie und wirkt plötzlich größer, obwohl ihre Füße nur mit Ach und Krach den Boden berühren. »Die wenigsten haben Stalin und sein Gefolge überlebt«, fährt sie fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und auf einmal kapiert er, worauf sie hinauswill.
»Du bist in einem Heim aufgewachsen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Aber meine Mutter. Ich hatte Glück, meine Großmutter nahm mich bei sich auf.«
»Und deine Eltern?«
»Als ich fünf war, hat mein Vater meine Mutter umgebracht und dann sich selbst.«
»Weil sie Samin war?«
»Weil er krank und kaputt war. Ein Trinker. Voller Hass und Gewalt.«
Sie bückt sich nach ihrer Tasche. Eine Geste, die sagt, bis hierhin und nicht weiter, doch noch immer sieht sie ihn unverwandt an.
»Das kenne ich gut.« Er hat das nicht sagen wollen, wird im Dienst nie persönlich. Scheiß drauf, denkt er auf einmal, fühlt sich sogar beinahe erleichtert.
»Ja.« Ekaterina Petrowa nickt, als habe er etwas bestätigt, was sie bereits wusste. Einen Moment lang sitzen sie stumm nebeneinander. Dann steigt er aus, und auch die Russin löst sich aus ihrer Starre und folgt ihm mit klackernden Absätzen über den Betonplattenweg zum Eingang.
Im Inneren des Hauses haben die Spurensicherer ihre eigenen Spuren hinterlassen und dabei ordentlich Staub aufgewirbelt. Er führt Ekaterina Petrowa
Weitere Kostenlose Bücher