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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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perfekt, hinterlässt keine Spuren. Bis auf ein paar schwarze Fasern an den Lehnen zweier Sitzmöbel, Fasern, laut KTU ein Gemisch aus Synthetik und Baumwolle, wie es die Firma Adidas seit drei Jahren in Trainingsbekleidung verwendet. Judith schaltet den Motor ab und versucht das Gefühl abzuschütteln, dass der Täter jeden Schritt, den sie tut, beobachtet, auch jetzt, hier, in diesem Moment. Die dritte Befragung an diesem Tag liegt vor ihr, das dritte fremde Haus, vor dem sie parkt. Ein Pflegeheim für die Alten und Lahmen, das sich Residenz nennt und das unabänderliche Warten auf den Tod mit gläsernen Loggien und einem gepflegten, rollstuhltauglichen Garten verbrämt.
    Der Täter war in dem Haus. Sie hat das gespürt, und jetzt ist es bewiesen. Er trug eine langärmlige schwarze Trainingsjacke, genauso wie in der Altstadt, als er die Pistole an Jonas Vollenweiders Hinterkopf presste. Wann war er in dem Haus, vor oder nach diesem Mord, allein oder mit Jonas zusammen? Sie versucht es sich vorzustellen, ist aus irgendeinem Grund sicher, dass er dort allein war, dass er das Haus nachts betreten hat, ohne das Licht einzuschalten, denn Licht wäre zu riskant, das hätte Regina Sädlich bemerken können oder irgendein anderer Nachbar. Der Täter tritt ins Haus seiner Opfer, kehrt zurück an seinen ersten Tatort, setzt sich dort auf die Wohnzimmercouch, läuft dann hoch unters Dach und sitzt an Miriams Schreibtisch. Warum? Was hat er dort gemacht? Hat er etwas gesucht, vielleicht diese goldene Kette, von der Lea sprach? War er nur einmal dort oder mehrmals? Und wieso hat er einen Schlüssel?
    Zu viele Fragen, zu viele Rätsel. Sie meldet ihre Position an die Kollegen im KK 11, steigt aus und läuft zum Eingang der Seniorenresidenz, dreht sich noch ein letztes Mal um, bevor sie durch die Glastür tritt. Nichts regt sich hinter ihr, niemand ist ihr gefolgt. Sie ist allein und auf einmal sehr müde und hungrig, und die Nachmittagshitze erscheint ihr im Inneren der Residenz noch drückender als draußen, sodass jede Bewegung zu einem Kraftakt gerät. Diese eine Befragung noch, dann trifft sie Manni zur Lagebesprechung in der Kantine, dort stünden in dieser Woche griechische Spezialitäten auf dem Programm, hat er gefeixt. Griechenland. Samos. Das Meer. Unendlich weit weg ist das jetzt, fast so, als hätte sie diese Reise nur geträumt. Auf Samos war der Täter nicht, dort war sie allein. Deshalb hat sie sich so leicht gefühlt. Trotz Lea Wenzels Trauer, trotz des Ermittlungsdrucks, trotz der Befürchtung, auch Lea sei in Gefahr und das weiße Pferd im Olivenhain neben ihrem Haus eine Warnung.
    Eine Vernehmung noch, Judith, reiß dich zusammen. Der Versuch einer Vernehmung zumindest, denn dass die inzwischen 89-jährige Erna Henkel noch in der Lage ist, irgendetwas Brauchbares über ihre langjährige Tätigkeit im Heim Frohsinn zu berichten, erscheint fraglich. ›Kommando Frohsinn‹ nennen sie die Soko Altstadt inzwischen intern. Zwei Dutzend Kollegen gehören ihr an, und trotzdem haben sie auch am fünften Tag nach Jonas Vollenweiders Ermordung keinen konkreten Anfangsverdacht, keine heiße Spur, nur ihren Galgenhumor. Selbst über das Motiv des Täters können sie nur spekulieren.
    Über 400 Namen gilt es zu überprüfen. Über 400 Namen, hinter denen sich die Schicksale von Jungen verbergen, die einmal im Kinderheim Frohsinn gelebt haben. Hinzu kommen ehemalige Erzieher, Küchen- und Reinigungskräfte, Aushilfen und Gärtner. Ein Wahnsinn ist es, schier unmöglich, all diese Menschen Jahrzehnte später ausfindig zu machen und herauszufinden, ob es Auffälligkeiten in ihren Biografien gibt. Todesfälle. Umzüge. Vorstrafen. Unerklärliche Veränderungen im Verhalten. Und natürlich muss man außerdem mit jedem Einzelnen über seine Erinnerungen an das Heim und seine Bewohner sprechen. Muss abklären, ob sich dort Tragödien ereigneten, die als Auslöser für eine Mordserie gelten könnten. Hat einer der einstigen Heimbewohner in Darmstadt gelebt oder lebt dort noch immer? Auch das müssen sie überprüfen, mit Vorrang sogar, denn alles spricht dafür, dass der Täter ein Perfektionist ist und dass also der Poststempel aus dieser Stadt kein Zufall ist, sondern eine wohlkalkulierte Botschaft.
    Eine Pflegerin begleitet Judith in den zweiten Stock, führt sie über einen blank gewienerten Flur mit fröhlichen Aquarellen und Haltegeländern entlang der Wände. Erna Henkel sitzt in einem schmalen Zimmer im Rollstuhl an einem

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