Nichts als Erlösung
augenblicklich, sofort, doch Munzinger lässt sich nicht hetzen, im akribischen Zeitlupentempo untersucht er den Briefumschlag auf Spuren, also zwingt sie sich zur Geduld und fasst die Ergebnisse aus Samos für die Kollegen zusammen.
»Bist du sicher, dass Jonas’ Freundin nichts verschweigt?«, fragt Schneider, als sie geendet hat.
»Sicher – was heißt das schon? Ich glaube ihr, ja.« Sie starrt auf den Brief, alle starren sie darauf. Eine Nachricht vom Täter, daran hegt sie keinerlei Zweifel, auch wenn sie das bislang genauso wenig beweisen kann wie den Wahrheitsgehalt von Leas Worten.
»Keine Fingerabdrücke, keine DNA, die Marke ist selbstklebend.« Munzinger greift nach einem Messer und schneidet den Umschlag auf. Unwillkürlich treten sie alle näher.
Ein Foto fällt heraus, wieder nur ein einziges Foto. Ohne Erklärung, ohne Beschriftung, genau wie zuvor. Aber etwas ist dennoch grundlegend anders. Dieses Foto ist grün, und am oberen Rand verwischen ein paar verschwommene, senkrechte braune Linien.
Munzinger nimmt ein Vergrößerungsglas und beugt sich tiefer.
»Gras«, sagt er nach einer Pause. »Eine Art Lichtung oder Waldrand vielleicht. Die braunen Linien im Hintergrund dürften unscharfe Baumstämme sein.«
Bäume und Gras, ein Wald, irgendwo. In Deutschland, in Europa, vielleicht auch in Hessen. Unmöglich zu finden, wenn sie nicht weitere Anhaltspunkte bekommen. Sie denkt an die Marmorgräber von Pythagorio und an die Kinderskelette, die Manni auf dem Heimgelände entdeckt hat. Die dort verborgen waren, Jahre, Jahrzehnte, ohne dass jemand das ahnte. Warum schickt der Täter nicht ein Foto von dort? Weil er weiß, dass wir die toten Kinder bereits gefunden haben, denkt sie. Weil er uns etwas zeigen will, von dem wir noch nichts wissen: die Stelle, an der er vor 20 Jahren die Leichen der Vollenweiders begraben hat. Warum tut er das, was ist seine Motivation? Er fühlt sich überlegen und will uns das zeigen. Er will mit uns spielen, sein grausames Spiel. Nein, nicht mit uns. Mit mir.
***
Der Schuss löscht alles aus, macht alles schwarz. Die Stille danach ist ein riesiges Rauschen. Weg, er muss weg, aber er kann sich nicht bewegen. Modrige Luft wallt ihm ins Gesicht, etwas drückt in seinen Magen, metallisch und hart. Noch ein Schuss. Ohrenbetäubend. Erdkrumen spritzen ihm um den Kopf. Er muss weg, er muss fliehen, sonst wird er sterben. Oder ist er schon tot? Nein, noch nicht. Wie durch ein Wunder haben ihn die Kugeln verfehlt. Oder ist das Berechnung, wartet der Schütze nur darauf, dass er sich bewegt? Nur eine Chance, wenn überhaupt, hat er nur eine einzige Chance. Weg von der Lichtung muss er, ins Unterholz, und dann die Bäume als Deckung nutzen, während er flieht. Atem holen. Kraft sammeln. Konzentration. Alle Muskeln anspannen. Sabine. Julia. Jan. Er darf sie nicht im Stich lassen, nicht auch noch sie. Schritte rascheln hinter ihm, Äste knacken. Der Schütze kommt näher. Jetzt, jetzt! Er fasst nach der Taschenlampe und schleudert sie dorthin, wo er den Schützen vermutet, dann hechtet er los, wirft sich ins Unterholz, duckt sich und rennt, so schnell es geht. Zweige peitschen ihm ins Gesicht, Holz splittert, er glaubt Schritte zu hören, spürt den fremden Atem in seinem Nacken, eine Hand auf der Schulter, die ihn festhalten will. Ein metallisches Klicken.
Er schreckt hoch, keuchend, erkennt das helle Rechteck des Schlafzimmerfensters zu seiner Linken, die Konturen von Schrank und Kommode. Er lebt, Herrgott noch mal, er ist am Leben! Wer auch immer vorgestern Nacht auf ihn geschossen hat, hat ihn nicht getroffen. Er steht auf, schleicht ins Bad und schaufelt sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, kriecht dann wieder ins Bett zu Sabine. Er hat niemandem von den Schüssen erzählt, auch nicht ihr. Aber er hat gebetet, zum ersten Mal in seinem Leben hat er ein Dankgebet gesprochen, nachdem er es tatsächlich heil aus dem Wald zu seinem Auto geschafft hatte und zurück nach Darmstadt.
Er rückt näher an Sabine heran. Er will sie jetzt, will nicht mehr denken, will sich nicht erinnern, will nicht überlegen, was mit dem Deus geschehen ist und der Lampe, die er bei seiner wilden Flucht zurückgelassen und am nächsten Tag trotz allen Suchens nicht mehr gefunden hat. Er will nicht darüber nachdenken, was das bedeutet, was der Schütze damit vorhat. Er will nur noch fühlen, das Leben, Sabine, sich selbst. Er will sich in ihr versenken und verlieren, tiefer und dringender als je
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