Nichts als Erlösung
Tisch vor dem einzigen Fenster. Doch eine Jalousie sperrt die Sonne aus, sodass Judith sich fühlt, als trete sie in das Dämmerlicht einer dumpfwarmen Höhle. Sie stellt sich vor und drückt Erna Henkels Hand, die zart und kühl wie ein nacktes Vögelchen in der ihren liegt. Vor 20 Jahren hat Erna Henkel einem Journalisten des KURIER ein Interview gegeben, dessen Kopie in den Ermittlungsakten liegt. Im Vergleich zu dem Foto von damals ist ihr Gesicht faltiger geworden und ihre Haut fast durchscheinend, wie gelbliches Pergament. Judith reicht ihr die Kopie des Interviews und erklärt, um was es geht. Wortlos greift die ehemalige Erzieherin nach einer Leselupe mit integrierter Beleuchtung und beugt sich über das Interview.
Judith lässt ihr Zeit, Zeit, sich zu erinnern, vielleicht, hoffentlich. Ein unpersönliches Zimmer ist dies, wird ihr plötzlich bewusst. Auf dem Tisch, an dem sie sitzen, liegt eine Spitzendecke, in einer schmalen Vase lässt eine einzelne rosafarbene Rose den Kopf hängen. Aber Erna Henkel hat offenbar keine eigenen Möbel mitgebracht, und nirgendwo stehen Fotos von Kindern und Enkeln oder aus dem Kinderheim, nur ein paar Katzenfiguren aus Porzellan sind auf einem Sideboard neben dem riesigen Pflegebett aufgereiht.
Erna Henkel lässt die Lupe sinken und nickt, als wolle sie bekräftigen, was sie gerade gelesen hat. Allseits beliebt sei Hans Vollenweider im Haus Frohsinn gewesen, sehr fürsorglich und gut, hat sie dem KURIER-Journalisten vor 20 Jahren in die Feder diktiert. Und genau das wiederholt sie jetzt, sosehr Judith auch bohrt. Wiederholt es mit Kraft und Überzeugung, so als könne sie sich tatsächlich ganz genau an alles erinnern, auch wenn sie zwischendurch immer wieder innehält und beinahe weggetreten wirkt.
»Und Johanna Vollenweider?«, fragt Judith schließlich.
»Sie hat den Buben Eiscreme gegeben, wenn sie brav waren.« Ein vages Lächeln irrlichtert über Erna Henkels Gesicht.
»Und wenn sie nicht brav waren?«
Das Lächeln verblasst, der Blick der alten Frau scheint ins Leere zu gleiten.
»Sie hat die Buben nie geschlagen«, sagt sie schließlich.
»Sondern?«
»Wenn es gar nicht ging, gab es ja auch noch das Besinnungszimmer. Da kam ein Bub hinein, wenn er tobte. Da hat er sich wieder beruhigt.«
Ein Junge tobt und schreit und verzweifelt, und wenn er sich nicht beruhigen lässt, wird er weggesperrt. Ist es das, was dem Jungen mit dem Bild widerfuhr, von dem Lea erzählte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Erna Henkel jedenfalls will davon nichts wissen, oder sie hat es vergessen, oder es ist niemals passiert.
Der Himmel ist weiß, als Judith das Pflegeheim verlässt, die Luft ist statisch aufgeladen, beinahe greifbar. Vielleicht gibt es endlich ein Gewitter, Regen, Erfrischung, wenigstens für eine Nacht, vielleicht können sie dann besser denken und kommen voran.
Besinnungszimmer. Sie setzt sich ins Auto, lässt die Fenster herunter und versucht sich vorzustellen, was das für ein Raum war und was es für einen Jungen bedeutet haben mag, darin gefangen zu sein. In der Stadtbibliothek hat man ihr eine Kopie des Erziehungsratgebers von Johanna Haarer erstellt, eine Ausgabe von 1961. Judith blättert darin und stößt auf das Kapitel zur Säuglingspflege, das empfiehlt, selbst Neugeborene, sobald sie gestillt und gesäubert sind, allein in ein Zimmer zu legen und nicht weiter zu beachten. ›Nach wenigen Nächten, vielleicht schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, dass ihm sein Schreien nichts nützt, und ist still‹, schreibt Haarer dazu.
Judith wirft das Buch auf den Beifahrersitz, dreht den Zündschlüssel und fährt zurück ins Präsidium. Die Luft, die durchs Fenster weht, schmeckt nach Staub und scheint trotzdem zu kleben. Musik wäre jetzt gut, irgendetwas mit sehr lautem und schnellem Beat, doch sie hat keine Lust, das Radio anzudrehen, sie will keine Werbung hören, keine Nachrichten, keine überdrehten Moderatoren.
Die Kantine ist ungewohnt voll dafür, dass es schon später Nachmittag ist. Offenbar ist die griechische Woche ein Renner bei den Kollegen, auch wenn die blauweißen Wimpel über der Essensausgabe ziemlich schlapp aussehen. Judith entdeckt Manni an einem Tisch am Fenster, er steckt sein Handy weg, als er sie sieht, und kommt ihr entgegen. In stummem Einvernehmen laden sie Souvlaki-Spieße, Hirtensalat und Pommes frites auf ihre Teller und schlingen am Tisch erst mal ein paar Bissen herunter, bevor sie sich auf Stand bringen und eine
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