Nichts als Erlösung
zuvor.
Er kann nicht zur Polizei gehen, auf gar keinen Fall, wieder und wieder kommt er zu diesem Schluss, auch als sie später auf der Terrasse beim Frühstück sitzen, ist das nicht anders. Er kann nicht zur Polizei gehen, es sei denn, er würde sich gleich selbst als Raubgräber anzeigen und dadurch seine Familie zerstören. Er versucht, sich zu entspannen, und schmiert eine Brötchenhälfte für Jan, der fröhlich neben ihm auf seinem Kinderstuhl sitzt. Er hat noch eine halbe Stunde Zeit, bis er zur Arbeit muss, es ist schattig auf der Terrasse, nicht heiß, sondern angenehm warm, der Himmel über ihnen ist bilderbuchhimmelblau, so wie seit Wochen, Julia brabbelt im Sandkasten vor sich hin, und Sabine ist ihm gegenüber in die Zeitung vertieft. Er trinkt einen Schluck Kaffee und verbrennt sich die Zunge. Jetzt reg dich mal ab, Eric, jetzt krieg dich wieder ein und betrachte die Fakten: Die Lampe war an, als der erste Schuss gefallen ist. Du warst das perfekte Ziel und wurdest doch nicht getroffen. Weil der Schütze entweder unfähig ist, allerdings ist das wenig wahrscheinlich. Oder weil er dich gar nicht treffen wollte, sondern nur erschrecken. Und das ist dem Revierförster dort ohne weiteres zuzutrauen, der ist doch völlig durchgeknallt, wenn es um die Verteidigung seines geliebten Naturschutzgebietes geht. Bleibt noch das Problem, dass der nun deinen Metalldetektor und die Lampe hat. Doch deshalb kann er noch lange nicht beweisen, dass die dir gehören, der kennt deinen Namen nicht, dein Name steht da nicht drauf.
Sabine senkt die Zeitung und sucht seinen Blick, ein versonnenes Lächeln spielt in ihren Mundwinkeln.
»Wo bist du, Eric, was ist mit dir?«
»Wieso, was soll sein?« Er beißt in seine Brötchenhälfte, merkt im selben Moment, dass er noch gar nichts draufgetan hat.
»Vorhin diese wilde Leidenschaft, und auf einmal bist du ganz weit weg. Und dann schenkst du mir diese sicher sündhaft teure Kette.« Sie betastet das goldene Herz, das sich so perfekt in ihre Kehle schmiegt, ohne den Blick von ihm zu wenden.
Er greift nach der Butter, schluckt den trockenen Teigbrocken runter.
»Beschwerst du dich?«
»Um Himmels willen!« Sie grinst. »Marion hat mich schon nach der Kette gefragt. Wo du die gekauft hast, wollte sie wissen.«
»Marion? Wieso Marion?«
»Ich vermute, sie will Kurt einen Tipp geben, sie hat doch Anfang September Geburtstag.«
Kurt, ausgerechnet Kurt. Als der erste Schuss krachte, hatte er für einen absurden Moment geglaubt, Kurt schieße auf ihn, denn schließlich konnte außer Kurt niemand auch nur ahnen, wo er sich befand. Aber Kurt ist der friedfertigste Mensch von der Welt, abgrundtief korrekt und zimperlich noch dazu. Und selbst wenn Kurt ihm heimlich gefolgt wäre, hätte er ja wohl kaum auf ihn geschossen, sondern nur wieder einen seiner Vorträge gehalten.
»Eric, hallo? Hörst du mir überhaupt zu?« Sabine tippt auf die Zeitung. »Hier ist ein riesiger Artikel über ein Kinderheim. Es geht um den Mord an einer Familie, der vor 20 Jahren geschah und nie aufgeklärt wurde. Jetzt haben die neben dem Heim, wo der Vater dieser Familie arbeitete, auch noch Kinderskelette gefunden.«
»Kindersettete!« Jan kichert. »Was ist das, Mama?«
»Das verstehst du noch nicht, Schatz«, sagt Sabine, ganz entgegen ihren sonstigen pädagogischen Prinzipien, alles zu erklären. Sie wuschelt Jan durchs Haar, gibt ihm einen Stups. »Guck mal, was Julia macht, ja? Bring ihr noch ein paar Erdbeeren.«
»Schrecklich, oder?«, sagt sie, sobald Jan außer Hörweite ist. »Offenbar kennt man nicht mal die Namen dieser Kinder. Niemand hat die jemals vermisst oder nach ihnen gefragt, es scheint fast so, als hätten die nie existiert.«
Kinder, die niemand haben will. Er will nicht daran denken, nicht auch noch daran, nicht an diesen Sohn, der ihm damals so egal war, so lästig, genauso wie dessen Mutter, die er einfach nur hatte rumkriegen wollen, ein einziges Mal mit ihr vögeln, mit dem coolsten Girl aus der Clique, auch wenn sie damals schon viel zu viel kiffte.
»Dabei haben die bei dem Kinderheim gar nicht nach diesen armen Kindern gesucht, sondern nach den Leichen dieser ermordeten Familie«, sagt Sabine. »Das ist echt wie in so einem Gruselfilm, stell dir das doch mal vor. Die suchen seit 20 Jahren nach Leichen und finden und finden die einfach nicht.«
Der Vogelfuß fällt ihm ein, winzig und bleich. Die Knochen des toten Soldaten. Er biegt die Zeitung so, dass er was
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