Nichts als Erlösung
Ich stelle mir vor, dass ich ein Forscher bin und die Erde erkunde. Ich stelle mir vor, dass sich tief unter dem Gemüsebeet ein Goldschatz verbirgt, den ich hebe und ganz für mich behalten darf, und dass ich meine Mutter wiederfinden und fortan mit ihr in einem Palast leben werde.
Ich rupfe die Möhren, so schnell ich kann, aus dem Boden und werfe sie in den Korb. Und sobald ich damit fertig bin, beginne ich zu graben. Aber ich finde kein Gold, ich finde eine winzige Hand aus Knochen.
Ich war noch klein damals. Ich war naiv. Ich trug diese Knochenhand zu ihnen, denn ich war sehr erschrocken. Und sie erschraken auch, das sah ich genau. Und dann schlugen sie mich. Nichts, gar nichts hast du gefunden, du Nichtsnutz, verstehst du? Wag es bloß nicht, davon zu reden, grab dort nie wieder.
Zwei Tage später gab es dann Möhreneintopf, und ich konnte nur an die Hand denken und rührte den Eintopf nicht an. Frevel! Verschwendung! Das gab es nicht, das wurde nicht geduldet.
Ich musste sitzen bleiben. Aufessen. Und als ich erbrach, zwangen sie mich, meine Kotze zu essen. Einmal. Zweimal. Das gute Gemüse. Das böse Kind. Böse und undankbar, das kann man nicht zulassen. Erna hatte schließlich Erbarmen und versprach mir ein Eis, wenn ich am nächsten Tag folgsamer wäre. Am Ende dieser Woche mochte ich auch keine Eiscreme mehr.
Erinnerungen. Ich habe gewusst, dass sie wiederkommen, natürlich. Trotzdem halte ich sie nicht aus.
Ich habe meinen Plan deshalb geändert und die Dinge beschleunigt. Und Du musst mir helfen. Du musst Dich jetzt wirklich auf das Richtige konzentrieren. Damit es vorbei ist. Damit ich endlich frei bin. Ich will doch nichts als Erlösung von Dir.
Freitag, 7. August
Hufgetrommel. Das seidige Weiß einer fliegenden Mähne. Der Schimmel bäumt sich auf, fast glaubt sie, dass er sie unter sich begraben wird, aber dann wirft er sich herum und flieht in die andere Richtung, flieht vor ihr, sie versteht nicht, warum. Bleib, ruft sie ihm nach, ruft, so laut sie kann, mit dieser tonlosen, körperlosen Stimme, die Albträumen Vorbehalten ist. Doch der Schimmel flieht nur noch schneller, und ein Schatten löst sich von ihm und jagt auf sie zu, eine rasant wachsende Schwärze, in deren Mitte zwei Augen glühen. Sie muss sich vor diesen Augen in Sicherheit bringen, sie muss den Schimmel zur Umkehr bewegen, er muss sie retten. Das war seine Botschaft, begreift sie endlich: Er wollte sie vor dieser Schwärze warnen. Doch jetzt ist die Dunkelheit schon beinahe da, der Sieg der Schatten, und sie darf nicht, sie darf einfach nicht, sie muss …
Sie erwacht von ihrem eigenen Schrei, aufrecht im Bett sitzend, die Fäuste vor der Stirn geballt, das Gesicht wie zum Schutz auf die Knie gepresst. Doch es gibt keinen Schutz, nicht so jedenfalls, nicht wenn sie die Augen verschließt wie ein ängstliches Kind. Sie versucht sich das klarzumachen, den Verstand einzuschalten, ihr waches Ich, die Kommissarin. Mach die Augen auf, schau genauer hin, ganz egal, wie schrecklich das Geschaute auch sein mag. Sehen musst du, alles sehen. Nur so hast du eine Chance, die Kontrolle zurückzugewinnen, die Dämonen zu bannen, wieder frei zu sein.
Sehen, alles sehen. Die Wahrheit erkennen. Darum geht es letztlich in jeder Todesermittlung, und Wahrheit ist der wohl einzige Trost, den sie den Angehörigen der Opfer am Ende anbieten können. Anfangs hat sie noch auf Gerechtigkeit gehofft, aber das ist lange her, und wie sollte man ein vernichtetes Leben auch je angemessen sühnen? Wahrheit also bleibt das Ziel und der größte Erfolg jeder Soko: Die Wahrheit des Täters, die Wahrheit der Tat. Und diese Wahrheit ohne jeden Zweifel benennen zu können, benennen und beweisen, das ist schon sehr viel und gelingt längst nicht immer. Doch man hat keine Wahl. Man muss nach dieser Wahrheit suchen. Nur durch sie kann es irgendwann wieder so etwas wie Frieden geben, sogar auf die trauernden Angehörigen der Opfer trifft das zu.
Etwas klappert in ihrer Wohnung, das Fenster schlägt zu. Judith hebt den Kopf und öffnet die Augen, zwingt sich, die Finger endlich zu entspannen, zu atmen. Blitzlicht zuckt auf, stroboskopgrell, dicht gefolgt von fast ohrenbetäubendem Donner. Das Gewitter. Endlich. Sie wirft das verschwitzte Laken, das sie als Decke benutzt hat, zur Seite. Der Himmel sieht psychedelisch aus, als habe ein wütender Künstler ihn mit brombeervioletter Tinte getränkt, wieder zuckt ein Blitz und zersplittert in Zickzacklinien, grellweiß
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