Nichts als Erlösung
weitere Runde Fragen und Antworten durchspielen, die direkt zu neuen Fragen führen.
»Gehen wir mal versuchsweise davon aus, dass das Grab bei dem Heim tatsächlich eine traurige Hinterlassenschaft aus der NS-Zeit ist, von dem die Vollenweiders nichts wussten«, schlägt Manni vor. »Was folgt daraus?«
»Dass es unter der Leitung Hans Vollenweiders in dem Heim trotzdem brutal zugegangen sein kann, genauso wie in seinem Privatleben. Dass wir immer noch Leichen suchen und nicht mal wissen, wie viele. Dass der Täter mit uns spielt.«
Judith legt ihr Besteck beiseite. Der Täter ist nah, er beobachtet sie, er schickt ihr Botschaften. Warum ihr? Weil er am Tatort in der Altstadt gewartet hat, bis Jonas Vollenweider entdeckt wurde, und sie dort gesehen hat? Weil sie eine Frau ist? Weil er sie ganz bewusst ausgewählt hat und so gut kennt, dass er eine bestimmte Reaktion von ihr erwartet? Oder hat er ihren Namen einfach in der Zeitung gelesen? Sie muss das verstehen, um diesen Fall zu lösen, wird ihr auf einmal klar. Sie muss das wissen, um den Täter zu verstehen.
»In Darmstadt gibt es eine Menge Kasernen«, sagt Manni. »Vielleicht war unser Täter dort stationiert. Hat dort gedient und eine Pi mitgehen lassen.«
»Die Tatwaffe, ja, das könnte sein. Falls die tatsächlich eine Pi ist.«
»95 Prozent, sagt Munzinger.« Manni schüttet Ketchup über seine Fritten.
»War Hans Vollenweider bei der Bundeswehr?«
»No. Er musste nicht, gehörte zum weißen Jahrgang.«
»Bleiben also unsere rund 400 ehemaligen Heimkinder, wenn du mit deiner Annahme recht hast.«
»Oder Mister Unbekannt.«
»Oder unser Joker. Miriam.«
»Joker, na ja. Glaubst du das echt?«
Judith schiebt ihren Teller zur Seite. »Immerhin hatte sie laut Lea diesen heimlichen Freund.«
»Vielleicht wohnt der ja in Darmstadt.« Manni stellt den Ketchup zur Seite, greift wieder zur Gabel. »Von den Heimkindern, die mit A anfangen, hat jedenfalls keiner einen Bezug zu Darmstadt und auch nicht zur Bundeswehr. Aber wer weiß, jetzt kommt ja erst mal B an die Reihe, dann C und so weiter. Immer schön nacheinander. Leider sind die Listen wohl nicht mal ganz vollständig.«
»Wer sagt das?«
»Das Jugendamt.«
»Können sie das ändern?«
»Sie arbeiten dran, wollen aber nichts versprechen.«
Zu viele Rätsel. Zu viele Möglichkeiten. Zu wenig Zeit, sie alle zu verfolgen, und noch immer ist da ein blinder Fleck, etwas, das sie nicht sehen, sosehr sie sich auch bemühen. Ihr Handy meldet sich und signalisiert den Eingang einer Nachricht. Kein Text, nur ein Foto. Sie öffnet es, starrt darauf, beginnt wieder zu schwitzen, hier, in der klimatisierten Kantine. Zobel, die Ratte, lässt einfach nicht locker. Oder ist dieses Foto gar nicht von ihm? Sie checkt den Absender: keine Nummer. Teilnehmer unbekannt.
»Bad news?« Manni lässt die Gabel sinken und mustert sie.
KHK Krieger am Tatort in der Altstadt. Ein bleicher Schemen, mit den Händen auf der Leiche. Von oben fotografiert. Von der Brücke aus. Von dort, wo sie einen Moment lang glaubte, den Täter zu sehen, den Mann, der vor ihr weggelaufen war. Oder hat sie sich das eingebildet, war das nur ein Passant?
»Dieser KURIER-Reporter hat behauptet, er hätte Fotos, die mich am Tatort zeigen.«
Sie hält Manni das Display hin. Er wirft einen Blick darauf, runzelt die Stirn.
»Und?«
»Ich glaube nicht, dass das eins dieser Fotos ist.«
»Du glaubst, der Täter meldet sich jetzt auch per SMS bei dir?«
»Die Nummer des Absenders ist jedenfalls anonymisiert, Zobels Nummer nicht.«
Der kriegersche Verfolgungswahn. Sie glaubt das in Mannis Gesicht zu lesen, glaubt das schon zu hören, doch stattdessen mustert er das Display ein weiteres Mal, wirft ihr einen unergründlichen Blick zu und steht auf.
»Zeit für ein Interview, kommst du mit?«
»Interview mit wem?«
»Mit dem KURIER.« Er grinst. »Vielleicht haben ja unser Top-Reporter oder einer seiner Informanten aus Versehen den Täter fotografiert.«
***
Er war 18 damals, Herrgott noch mal, völlig grün hinter den Ohren. Natürlich wollte er vögeln, alle wollten sie das, immer und ständig. Abhängen, saufen und Mädels klarmachen. Alles, was sie damals taten oder dachten, lief früher oder später unweigerlich darauf hinaus. Beneidet haben sie ihn, als er bei Christin das Rennen machte. Er konnte ja selbst kaum glauben, wie eilig sie zur Sache kam, als sie erst mal anfingen. Natürlich hatte er da nicht an Pariser gedacht, er hatte ja
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