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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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geistern sie über die Dächer und lösen sich auf. Noch ein Knall, direkt über ihr.
    Das Parkett ist kühl unter ihren nackten Füßen. Sie trinkt ein Glas Leitungswasser in der Küche und sichert das Fenster, schenkt sich Weißwein ein. Drei Uhr nachts, oder drei Uhr morgens, je nachdem, wie man das betrachtet. Ein neuer Ermittlungstag drängt heran, Tag 58 ohne Zigarette, sie hätte nie gedacht, es so lange zu schaffen, sogar Manni fängt allmählich an, sich daran zu gewöhnen, und lästert nicht mehr. Sie trägt den Wein ins Wohnzimmer und öffnet die Tür zur Dachterrasse. Auf dem Tisch draußen stehen noch die leeren Bierflaschen, die Manni und sie ein paar Stunden zuvor dort zurückgelassen haben. Sie hatten beide nicht einfach heimgehen wollen, als sie in der KURIER-Redaktion fertig waren. Waren noch zu aufgeputscht von einer weiteren Hoffnung auf einen schnellen Erfolg, die sich wieder zerschlagen hatte, hatten noch einmal die verschiedenen Möglichkeiten hin und her gewälzt. Trotzdem waren sie am Ende nur um eine Antwort klüger. Das Foto, das ihr aufs Handy geschickt wurde, stammt offenbar wirklich vom Täter. Als Absender hat die KTU ein vor drei Monaten als gestohlen gemeldetes Handy mit Prepaid-Karte ermittelt.
    Der Himmel bricht auf, vollkommen überraschend, als habe jemand eine gigantische Dusche angestellt, prasselt der Regen auf die Holzbohlen der Terrasse, die Scheiben, die Dächer, zwingt die Halme der Bambusstauden in den Kübeln in eine zittrige Verbeugung, spritzt durch die offene Terrassentür auf Judiths Füße. Ja, denkt sie, plötzlich auf unerklärliche Weise euphorisch. Ja! Jetzt löst sich etwas. Es wird einen Durchbruch geben oder wenigstens eine neue Qualität der Ermittlung, ich weiß, dass es so ist, ich kann das spüren.
    Regen, warmer frischer Regen aus einem Brombeerhimmel. Auf einmal reicht es ihr nicht, ihm von drinnen zuzuschauen, sie will ihn riechen, schmecken, fühlen, und bevor sie es sich anders überlegen kann, tritt sie aus ihrem Wohnzimmer mitten auf die Dachterrasse, legt den Kopf in den Nacken und breitet die Arme aus, lässt sich überströmen. Sie ist im Nu klatschnass, ihr Haar fällt ihr schwer in den Nacken, ihr T-Shirt klebt an der Haut. Aber es ist gut, auf eine verrückte Art wie ein Nachhausekommen, als habe der Regen schon lange auf sie gewartet. Wann hat sie zum letzten Mal in ihrem Leben so im Sommerregen gestanden? Lange her, verdammt lange her, irgendwann in Frankfurt mit Erri, als sie 16 war. Sie muss plötzlich lachen, trinkt ihren Wein aus, hebt das leere Glas hoch zum Himmel, breitet die Arme wieder aus. Sie hatten im Regen getanzt, sie und Erri, in jenem lange vergangenen hessischen Sommer, getanzt und gesungen und sich an den Händen gehalten, sie hatten geglaubt, das Glück währe ewig.
    Das Wasser prasselt auf ihre Stirn, auf ihre Arme, auf ihre Brüste, auf ihren Rücken. Wasser. Leben. Die Frau im Regen. Wieder muss Judith lachen. Ein Buch könnte so heißen. Ein Film. Und es könnte ein Liebesdrama sein. Oder ein Thriller. Sogar eine romantische Komödie.
    Später erst, als sie schon im Badezimmer unter der heißen Dusche steht, weil sie draußen völlig unvermittelt zu frieren begann, kommen auch die Erinnerungen an das jähe, zornige Ende jenes Frankfurter Mädchensommerglücks zurück. Wie sie getobt und geschrien und gewütet hatte, als ihre Mutter ihr offenbarte, dass ein weiterer Umzug in eine weitere Stadt unvermeidbar sei und damit ein weiterer Schulwechsel für Judith und die Brüder. Ihr müsst das verstehen, Papa hat gar keine Wahl, und wir leben doch alle von seinem Geld, und das sehr gut. Damals hatte Judith sich geschworen, nie, niemals von jemandem abhängig zu sein, immer ihr eigenes Geld zu verdienen. Und so hatte sie es gehalten, egal, wie hart das auch gewesen war. Doch in jenem Sommer hatte das nichts genützt, in jenem Sommer kam es auf sie nicht an und auf das, was sie wollte. Weil sie minderjährig war. Jugendlich. Ein Kind. Nicht befugt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
    Natürlich hätte sie weglaufen können, als die Möbelwagen vorfuhren. Durchbrennen, untertauchen, das Beste hoffen. Aber das hätte nicht funktioniert, das begriff sie selbst damals mit 16, irgendwann hätten sie sie aufgegriffen und zurück zu ihren Eltern gebracht, in ein schickes Internat, womöglich sogar in ein Erziehungsheim, aber niemals zurück nach Frankfurt zu Erri.
    Judith stellt die Dusche aus und wickelt sich in ein Handtuch.

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