Nichts als Erlösung
Sie hatte keine Macht gehabt. Kein Recht zu entscheiden, wo und wie sie leben wollte. Weil sie nicht volljährig war, sondern den Entscheidungen der für sie verantwortlichen Erziehungsberechtigten unterworfen. Und natürlich hatten ihre Eltern ihr letztendlich nichts Böses gewollt und nichts Böses getan. Sie hatten sie nicht misshandelt, sie hatten ihr eine gute Bildung ermöglicht, Urlaubsreisen, Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, es fehlte an nichts. Sie hatte sich fremd gefühlt in ihrer Familie, das ja, sie hatte gestritten, je älter sie wurde, desto mehr, aber zugleich hatte sie ihre Brüder geliebt und auf eine seltsam verquere Art auch ihre Mutter.
Ihr habt es besser als die, also benehmt euch. Wie aus weiter Ferne hört sie Lea dieses Zitat aus Jonas’ Kindheit wiederholen. Judith stellt sich vor den Badezimmerspiegel, spricht es laut aus, glaubt einen Moment lang wie ein schwaches Echo auch das zu hören, was darin mitschwingt, was Hans und Johanna Vollenweider aber vermutlich niemals laut aussprechen mussten, weil es so selbstverständlich war, auf so machtvolle, brutale Weise allgegenwärtig: das Leiden der Heimkinder gleich nebenan, die niemanden hatten, der mit ihnen verwandt war oder sich aus einem anderen Grund persönlich mit ihnen verbunden fühlte, die vollkommen der Willkür Fremder unterworfen waren, in deren Obhut sie sich befanden.
Etwas in ihrem Nacken beginnt zu prickeln. Ungut, wie eine Warnung, als ob jemand hinter ihr stehe mit bösem Blick. Und dann begreift sie endlich, warum der Täter in der Altstadt gewartet hat, bis sein Opfer gefunden wurde. Warum er auch zu seinem ersten Tatort, dem Haus in Hürth, immer wieder zurückkehren musste, dem Heim seiner einstigen Peiniger. Warum er ihre Leichen versteckt, sodass niemand sie finden kann. Warum er alles fotografiert. Weil er die Kontrolle behalten will, immer, unter allen Umständen. Weil das für ihn die einzig mögliche Konsequenz aus seiner Kindheit im Heim ist, der Hilflosigkeit dort, dem Ausgeliefertsein. Und er schickt ihr die Fotos, weil er davon überzeugt ist, dass er auch sie unter Kontrolle hat und deshalb nach Gutdünken manipulieren und quälen kann. Genau so, wie seine Erzieher es früher mit ihm getan haben.
***
Bewegung, endlich. Kurt Böhm heißt ihr Mann der Stunde. Geboren 1960. Aufgewachsen im Kinderheim Frohsinn. Wehrdienst in Aschaffenburg. Wohnhaft in Darmstadt seit 1979. Manni fädelt sich auf die linke Spur der A3, neben ihm rammt Judith Krieger reflexartig die nackten Füße ins Bodenblech.
»Relax, Baby, ich hab alles im Griff.« Manni grinst und beschleunigt auf 170.
Sie verdreht die Augen, kramt in ihrer Handtasche rum, fördert eine CD zutage.
»Ich leg die mal auf.«
»Wenn’s dir hilft.«
Zum Glück haben sie ihm heute Morgen nicht eine der Schwachmaten-Gurken zugeteilt, sondern den flinken Mondeo. Er schert kurz nach rechts, um einen BMW vorbeizulassen, dessen Fahrer offenbar noch nie was davon gehört hat, dass das dauerhafte Betätigen der Lichthupe als Nötigung gilt. Wenn der wüsste, wen er da gerade so hübsch bedrängt. Manni grinst noch ein wenig breiter. Aus den Wiesen neben der Autobahn steigt Wasserdampf. Die Sonne ist eben dabei, die letzten Regenwolken in Wohlgefallen aufzulösen. Eine schöne Welt ist das, so gesehen. Sogar die CD von der Krieger ist erstaunlich erträglich. Lässig und leicht irgendwie, mit einem coolen Beat, der nach Highway klingt, ganz anders als dieses Weltverbesserer-Politgejaule der 70er, auf das sie normalerweise steht. Sie ist überhaupt ziemlich locker in letzter Zeit. Vielleicht liegt es an ihrem neuen Freund, den er gestern Abend kurz in Augenschein nehmen durfte. Oder am Nikotin-Entzug. Vielleicht auch an beidem, verraten wird sie ihm das nicht, das weiß er schon.
»Wenn Kurt Böhm unser Täter ist und uns also durch seine Briefe an mich absichtlich auf seine Spur gebracht hat, muss er sich verdammt sicher fühlen, und dann dürfte es schwer werden, ihm was zu beweisen«, sagt sie düster. »Denn der Mann, den wir suchen, ist ein Perfektionist.«
»Niemand ist perfekt, Judith. Denk an die Fasern auf Miriams Schreibtischstuhl.«
»Fasern, ja, aber keine DNA.«
»Noch sind die Munzingers mit den Spuren aus Hürth nicht am Ende.«
Sie schnaubt, was in Anbetracht des aktuellen Bulletins der Kriminaltechnik keine Überraschung ist. Zwei Haare der Krieger haben die KTU-ler am Morgen als echte Entdeckung präsentiert und dazu noch weitere
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