Nichts als Erlösung
langen Schluck Bier. Er muss das jetzt durchziehen, er hat keine Wahl und kann nur hoffen, dass Kurt ihn mit seinem Misstrauen in Frieden lässt. Wenigstens hatte er seinen Rucksack noch auf, als der erste Schuss gefallen ist. Sonst hätte er den bei seiner panischen Flucht auch noch zurückgelassen, mitsamt seiner Adresse, dann wäre er wirklich am Arsch gewesen – vollkommen in der Hand dieses schießwütigen Försters.
Und wenn der Förster – oder wer auch immer auf ihn geschossen hat – ihm in dieser Scheißnacht bis zum Auto oder gar bis nach Hause gefolgt ist? Oder wenn der das gar nicht musste, um seine Identität rauszufinden, weil der gar kein Fremder war, sondern Kurt? Quatsch, das ist Quatsch, Kurt-der-Korrekte pirscht nicht mit einer Knarre durchs Unterholz, Kurt Böhm ist ein vollkommen friedfertiger Mensch. Eine Lusche, könnte man auch sagen. Ein Paragrafenreiter, der schon bei der bloßen Erwähnung eines nicht hundert Prozent legitimen Sondengangs ausflippt. Eric trinkt sein Bier aus und rammt die Flasche in den Kasten mit dem Leergut. Aber Sabine hat recht, Kurt hat manchmal so was Brütendes. Und er hat sich in den letzten Wochen verändert. Und neulich war Kurts Carport leer, als er vom Steiner Wald heimkam. Um drei Uhr nachts, und das mitten in der Woche – absolut keine Zeit, zu der Kurt sonst unterwegs ist.
Kurt war ein Heimkind, weißt du das denn nicht. Wieder und wieder hört er Sabine das sagen, seit dem Frühstück schon, wie in einer Endlosschleife. Regelrecht abgeschoben würden manche Kinder ins Heim, hat sie sich empört. Als normaler Mensch könne man solches Leid ja kaum ermessen. Wäre doch verständlich, wenn so ein jahrelang misshandeltes Kind sich an seinen Peinigern rächen würde. Stopp. Stopp. Stopp. Eric springt auf und läuft raus in den Garten, schlägt die Tür der Werkstatt hinter sich ins Schloss. Schwere Jugend, was heißt das schon? Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Auch bei ihm war früher nicht alles hopsasa und trallala. Aber deshalb ist er doch kein durchgeknallter Killer, genauso wenig wie Kurt. Die Knochen, die er im Steiner Wald gefunden hat, sind die sterblichen Überreste eines Soldaten. Punkt, aus, fertig, Schluss, damit hat es sich. Kurt ist ein Freund, auch wenn er manchmal seltsam ist. Und wenn Kurt ihn damals nicht mit der Renovierung seines Wohnzimmers beauftragt hätte, wäre er gar nicht hier. Dann hätte er Sabine nicht kennengelernt, hätte hier in der Nachbarschaft nicht so leicht Fuß gefasst, hätte nicht einmal mit dem Sondeln begonnen – das ist eigentlich ein Witz.
Er schultert seinen Rucksack und läuft rüber zum Haus. Kurts Wagen steht auch jetzt nicht im Carport, erfasst er mit einem Seitenblick. Vielleicht ist die Karre immer noch zur Reparatur, vielleicht war sie das auch neulich Nacht, und er hat das durcheinandergebracht. Eric schließt die Haustür auf und sieht sofort Sabines Zettel auf der Kommode. ›Schmeißt Du um 7 den Grill an, ich hab Kartoffelsalat gemacht‹. Kartoffelsalat mit Würstchen. Ein kühler Weißwein dazu und später eine Gutenachtgeschichte für die Kiddies, und dann noch ein Glas Wein. Das Leben ist gut und kann wahnsinnig einfach und geradlinig sein, wenn man mit der richtigen Frau und der nötigen Kohle in einem Eigenheim lebt. Er hängt seinen Rucksack an die Garderobe und greift nach dem Briefumschlag, der unter Sabines Zettel hervorguckt. Sein Name und seine Adresse sind in altmodischer Schreibmaschinenschrift aufgetippt, bestimmt ist das wieder irgend so ein Werbescheiß. Doch er hat sich getäuscht, der Brief ist keine Werbung, ganz im Gegenteil. In dem Umschlag ist nur ein Foto, und das zeigt ihm so ziemlich das Wertvollste, das es für ihn gibt: Sabine, Jan und Julia, einträchtig im Sandkasten, völlig unverkennbar, auch wenn ihnen der Fotograf die Köpfe abgeschnitten hat. Was zum Henker soll der Scheiß, wer hat das so bekloppt aufgenommen und schickt es ihm? Oder ist das kein handwerkliches Unvermögen, sondern eine Drohung? Er betrachtet das Foto genauer. In Sabines gerade noch erkennbarem Dekollete blinkt das goldene Herz. Das Foto ist also in den letzten Tagen entstanden. Eric dreht das Foto herum, schüttelt den Umschlag, wendet ihn. Nichts, gar nichts, keine Erklärung. Und auch kein Absender.
Ich erinnere mich an einen Sommertag. Wir ernten Möhren. Der Himmel ist hoch, Insekten summen im Kastanienbaum. Ich bin glücklich an diesem Tag, so glücklich es im Haus Frohsinn eben geht.
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