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Nichts als Knochen

Nichts als Knochen

Titel: Nichts als Knochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felizitas Carmann
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kräftigen Kieferknochen sich gleichmäßig bewegten. Ein Schauer überlief ihn, und seine Kehle wurde eng. Er hatte die Welle schon heute Morgen kommen spüren, als er mit Bruder Andreas im Archiv gewesen war. Es hatte ihn seine gesamte Selbstbeherrschung gekostet, sich auf den Zweck seiner Reise zu konzentrieren und seinem Mitbruder möglichst unauffällig die Fragen zu stellen, die ihn seinem Ziel näher bringen konnten. Er hatte keinen Erfolg gehabt. Bruder Andreas hatte ihn mit seinen Fragen komplett auflaufen lassen, wobei er dies auf eine so herzerfrischend sympathische Art tat, dass Dario seine Erfolglosigkeit noch nicht einmal bedauern konnte.
    Tief in Gedanken versunken, registrierte Dario erst nach einigen Sekunden den unterdrückten Hustenanfall, der Bruder Andreas schüttelte. Besorgt sah er zu dem blonden Mönch hinüber und beobachtete, wie er das kleine Plastikfläschchen hervorholte und einen Schwall des Asthmamittels tief einatmete. Als der Husten aufhörte, lächelte er Dario beruhigend zu und hob entschuldigend die Schultern. Schnell sah Dario auf seinen Teller, um das Beben zu unterdrücken, das durch seinen Körper lief.
    Krishna lag angezogen auf dem Bett und wälzte sich herum. Er hatte schon zum dritten Mal den Startknopf seines MP3-Players betätigt, und langsam fingen die Ohrstöpsel an, seine Haut wund zu scheuern. Trotzdem konnte er sich nicht der Stille überlassen. Nur noch einmal die Wise Guys hören. Zum dritten Mal an diesem Abend Dans Stimme, die den Refrain sang: Die Notbremse flüstert: ›Zieh mich doch und fahr zurück zu ihr! Was machst du hier?‹
    Und zum tausendsten Mal an diesem Abend Rebeccas Gesicht vor seinem inneren Auge. Was tat er hier? Wonach suchte er, was er nicht schon längst gefunden hatte?
    Er setzte sich auf und zog die Ohrstöpsel heraus. Sofort hörte er in der Zelle nebenan einen neuen Hustenanfall von Bruder Andreas. Er hatte ihm heute schon angeboten, ihn einmal genauer zu untersuchen, aber der junge Mönch hatte nur gelacht und gesagt: »Keine Angst, das ist nur mein Asthma. Um diese Jahreszeit ist es immer besonders schlimm, aber ich lebe schon seit Jahren damit. Kein Grund zur Beunruhigung.«
    Krishna starrte eine Weile in die Dunkelheit und wartete, bis es nebenan wieder ruhig wurde. Dann ging er leise zur Tür und trat auf den Gang. Er erstarrte, als er die Umrisse eines Mönchs um die Ecke biegen sah. Noch jemand, der durstig war und der Küche einen Besuch abstatten wollte? Aber warum hatte er dann seine Kapuze aufgezogen?
    Krishna folgte dem Gang um die nächste Ecke herum, ging vorbei an dem Abgang zum Keller, der heute die Schatzkammer des Klosters beherbergte, und trat in den Kreuzgang. Er ließ den Blick über das von Säulen umrahmte Viereck schweifen, konnte aber niemanden entdecken. Schließlich setzte er seinen Weg Richtung Küche fort und versuchte, das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, abzuschütteln.
    Der Nachmittag war sonnig und warm. Andrea Walterscheidt schloss die Augen und genoss die Wärme auf ihrem Gesicht. Ihre Gedanken drehten sich wieder um die letzten beiden Tage, und erneut schnürte Angst ihre Kehle zu. Vielleicht war es ja ein Fehler gewesen, noch einmal diesen Bülent aufzusuchen. Aber sie hatte es tun müssen. Sie hatte es für Tobias getan, und gestern Abend auf dem Nachhauseweg, nachdem sie seine Wohnung verlassen hatte, war es ihr völlig richtig vorgekommen, und sie hatte keine Sekunde gezögert. Aber jetzt hatte sie Zweifel. Sie musste es Tobias erzählen, heute noch. Aber zuerst wollte sie sich mit dem Menschen treffen, dem sie am meisten vertraute. Sie brauchte jetzt ein paar Augenblicke der Geborgenheit und jemanden, der ihr Trost spenden konnte. Sie öffnete die Augen und lächelte, als sie Andreas auf sich zukommen sah. Nach all den Jahren hatte sie sich noch immer nicht recht an seinen Anblick in dieser Mönchskutte gewöhnt. Als er vor ihr stand, schlang sie die Arme um seinen Hals und klammerte sich einige Sekunden lang an ihm fest wie ein kleines Kind. Dann löste sie sich von ihm und sah in seine blauen Augen.
    »Wie immer zum See runter?«
    Er lächelte und nickte. Einen Arm um ihre Schultern gelegt, ging er neben ihr her, und nach wenigen Schritten waren sie in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Eine viertel Stunde später hatten sie den kleinen Steg erreicht, der an einer schattigen Stelle wenige Meter in den Laacher See reichte. Sie gingen bis zum Ende, setzten sich auf die Holzplanken, und

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