Nichts als Knochen
ihre Füße baumelten nur wenige Zentimeter über dem kalten Wasser. Es herrschte fast vollkommene Stille. Nur der Wind rauschte im frischen Grün der Bäume, die das Ufer säumten.
Andrea starrte eine Weile in das dunkle Wasser, sah dann den blonden Mönch von der Seite an und sagte: »Andreas, ich muss dir was erzählen.« Sie hatte es immer hilfreich gefunden, dass sein Klostername das männliche Pendant zu ihrem eigenen Vornamen war. Es gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit.
Er sah sie lange an und nickte.
»Ich weiß«, antwortete er dann, »ich habe es sofort gemerkt. Wie heißt er denn?«
Sie verzog das Gesicht.
»Kannst du nicht wenigstens ein Mal so tun, als hättest du keine Ahnung, was ich dir erzählen will?«
Er lächelte und strich ihr eine rote Haarsträhne hinters Ohr.
»Ich kann halt in deinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Das war schon immer so. Du konntest noch nie irgendwas vor mir geheim halten.«
»Stimmt doch gar nicht!«, maulte sie und zog einen Schmollmund.
Andreas legte lachend einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
»Na, komm schon, Schwesterchen. Jetzt erzähl deinem großen Bruder mal, was los ist.«
»Auf die viertel Stunde brauchst du dir gar nichts einzubilden. Du bist doch nur älter, weil du dich mal wieder vorgedrängelt hast!«
Sie setzte einen empörten Gesichtsausdruck auf und versuchte sich aus seinem Arm zu befreien. Schließlich gab sie den Kampf auf und starrte einen Moment lang aufs Wasser.
»Er heißt Tobias, und wir kennen uns seit vier Wochen.«
Als Andreas schwieg, fuhr sie fort: »Er ist ein total netter Kerl, und ich bin so richtig bis über beide Ohren in ihn verknallt.«
»Und Jan?«, fragte Andreas leise.
Sie seufzte.
»Mit Jan ist das so ein Problem. Er will einfach nicht kapieren, dass ich ihn nicht mehr liebe. Ständig spioniert er mir hinterher, verfolgt mich und macht mir Szenen auf offener Straße. Vorgestern wollte er sich sogar mit Tobias prügeln.«
Andreas zog missbilligend die Brauen hoch und schüttelte den Kopf.
»Also wirklich, Andrea, es wäre manchmal besser, wenn du nicht so verschwenderisch mit deiner Liebe um dich schmeißen würdest. Irgendwann wird das noch mal fürchterlich ins Auge gehen.«
»Was verstehst du denn schon davon?«, schnappte sie und funkelte ihn an. Er sah ihr ins Gesicht, und ein paar Sekunden lang hielt sie seinem Blick stand. Dann senkte sie die Augen und murmelte: »Tut mir Leid. Ich weiß, dass du jede Menge von Liebe verstehst, wenn auch auf anderer Ebene als ich.«
»Worüber ich nicht besonders traurig bin!«
Sie schwiegen eine Weile, bevor Andreas fortfuhr: »Was wolltest du mir noch von Tobias erzählen? Irgendwas macht dir Sorgen, hab ich Recht?«
Sie schluckte.
»Ja, stimmt. Es ist … ich kann dir das nicht alles erklären, weißt du. Er hat ein paar dumme Fehler gemacht in seinem Leben, aber es tut ihm Leid, und er hat ein gutes Herz.«
Sie hatte schnell gesprochen, und er konnte ihre Not spüren. Er sah sie von der Seite an und lächelte.
»Das ist doch das Allerwichtigste, oder? Alles andere wird sich finden, du wirst sehen.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und drückte ihre Hand.
»Ja«, entgegnete sie zuversichtlich und sah ihm in die Augen, »alles andere wird sich finden. Und jetzt erzähl mal was von dir. Wie ist es dir so ergangen in deiner neuen Stellung als Hüter der Schatzkammer? Hast du schon irgendwelche Geheimnisse aus der uralten Geschichte des Klosters ans Tageslicht befördert?«
Er erstarrte, und etwas flackerte unruhig in seinen Augen. Rasch senkte er den Blick und antwortete leise: »Ich weiß nicht genau. Komisch, dass du danach fragst, aber ich habe tatsächlich etwas Merkwürdiges gefunden. Nachdem mein Vorgänger so plötzlich verstorben war, hab ich erst mal die gesamte Schatzkammer aufgeräumt und die Dinge neu geordnet und beschriftet. Dabei bin ich auf etwas gestoßen, das sehr eigenartig ist.«
Er griff unter seinen Umhang, löste eine Schnur und zog ein längliches, sehr alt aussehendes Holzkästchen hervor. Andrea nahm es ihm aus der Hand und strich vorsichtig mit einem Finger über die fast verblasste Inschrift.
»Was glaubst du, was es ist?«, fragte sie.
»Ich weiß noch nicht genau, ich bin noch dabei, die Schriften in der Bibliothek nach einem Hinweis zu durchforsten. Aber wenn es das ist, was ich vermute, dürfte es eigentlich gar nicht existieren.«
Er nahm ihr das Kästchen wieder ab, löste vorsichtig die kleinen
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