Nichts als Knochen
war ihm egal. Er streckte sich auf dem kühlen Boden aus, starrte eine Weile die schnell dahinziehenden Wolken an und schloss schließlich die Augen. Schlafen wäre nicht schlecht. Vielleicht half das beim Vergessen. Er zuckte zusammen, als er wenige Meter entfernt ein Räuspern hörte. Rasch öffnete er die Augen und wandte den Kopf. Am Rande des Weihers stand der Abt und sah zu ihm hinüber.
»Darf ich mich ein Weilchen zu Ihnen setzen?«, fragte er freundlich und wies auf das Gras neben Krishna.
»Bitte sehr, aber ich fürchte, Sie werden sich erkälten.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete der Abt zuversichtlich, während er sich behände neben Krishna ins Gras gleiten ließ, »wir Klosterbrüder haben dank unseres soliden Lebenswandels eine nahezu unverwüstliche Gesundheit.«
»Leider nicht alle«, bemerkte Krishna düster und heftete erneut seinen Blick auf das dunkle Wasser des Weihers.
»Nein, leider nicht alle.« Der Abt sah Krishna von der Seite an und schwieg eine Weile. Vom Sommerrefektorium drang leise das Geklapper von Geschirr herüber, und ganz entfernt konnte man auch leises Orgelspiel ausmachen, das der Wind von der Abteikirche herüberwehte.
»Die Menschen sterben, Herr Müller, und manchmal sterben sie auch vor der Zeit, wie es uns hier unten scheinen mag. Doch nichts geschieht ohne Sinn, auch wenn wir ihn nicht immer zu erkennen vermögen. Bruder Andreas ist jetzt bei unserem Herrn, und das ist gut so, auch wenn unsere Herzen ihn gerne noch eine Weile hier behalten hätten.«
Krishna hatte die Arme auf die angewinkelten Beine gestützt und schüttelte langsam den Kopf, ohne Abt Johannes anzusehen.
»Wissen Sie, Bruder Johannes, ich bin HNO-Arzt, und in dem Bereich passiert es nicht gerade häufig, dass man einen Patienten verliert. Um es genau zu sagen, war es das erste Mal, dass mir ein Patient unter der Hand wegstarb, und es ist mit Abstand das Schlimmste, was mir je widerfahren ist. Und, bei allem Respekt, kann ich Ihre Sicht der Dinge in keiner Weise teilen und diesem Tod wirklich nichts Positives abgewinnen.«
Krishna hatte schnell gesprochen, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Jetzt hielt er inne und sah dem alten Abt ins Gesicht.
»Vielleicht beneide ich Sie sogar um Ihre Fähigkeit zu glauben. Es macht viele Dinge leichter. Aber das ist nicht mein Weg, verstehen Sie? Ich muss diese Situation auf meine Weise meistern, und kein Glaube dieser Welt kann mir dabei helfen.«
Abt Johannes sah ihn lange mit einem Ausdruck großer Weisheit und Güte an und nickte dann.
»Ich verstehe. Ich werde trotzdem für Sie beten, wenn Sie erlauben.«
»Sicher, beten Sie nur«, entgegnete Krishna müde, »ich habe immer schon die Ansicht vertreten, dass alle Dinge möglichst von denjenigen erledigt werden sollten, die sich damit auskennen. Und beim Beten sind Sie mit Sicherheit Profi.«
»Ora et labora, Herr Müller, ora et labora! Unser Grundsatz für das Leben, und von beiden Dingen verstehen wir eine Menge.«
Der Abt kam wieder auf die Beine, und auch Krishna erhob sich, um zurück zum Konventbau zu gehen. Gemeinsam gingen sie den Weg entlang, der um den Weiher führte. Als sie das Klostergebäude erreicht hatten, wandte Krishna sich noch einmal an den Mönch.
»Wenn Bruder Agricola mich heute nicht dringend braucht, würde ich gerne den Nachmittag in meiner Zelle verbringen. Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken.«
Der Abt nickte verständnisvoll.
»Ich denke, das wird sich einrichten lassen. Gehen Sie in sich, und finden Sie Ihren Frieden.« Damit drehte er sich um und ging davon.
Kurz darauf ging Krishna den langen Gang entlang, an dem die Zellen der Mönche lagen und an dessen Ende sich seine eigene Zelle befand. Die kleinen Holzbrettchen an den Türrahmen, auf denen die Mönche bei Abwesenheit ihren Aufenthaltsort kennzeichneten, sagten ihm, dass alle anderen gerade ihren jeweiligen Tätigkeiten nachgingen. Der ganze Gang war völlig ausgestorben. Als Krishna an der Tür zur Zelle von Bruder Andreas vorbeikam, hörte er plötzlich von innen ein Geräusch. Er ging einen Schritt zurück und sah, dass die Zellentür nur angelehnt war. Einen Augenblick zögerte er, dann schob er die Tür vorsichtig auf und streckte seinen Kopf in die Zelle. Auf dem Boden vor Bruder Andreas' Bett kniete Bruder Giordano und tastete mit den Händen unter der Matratze entlang. Überrascht schob Krishna die Tür noch einen Spalt weiter auf und zuckte zusammen, als die Scharniere ein
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