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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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schwebend, und der Gedanke, wie dabei ihre Positionen wechselten, mal Cristina dort und dann sie selbst, beruhigte sie in einer Weise, dass sie Papa vergaß und dann hinüberglitt in die Traumlandschaft.
    Johanna verkörperte, was Marleen erst werden sollte. Blickte Marleen zurück, konnte sie an Cristina sehen, was ihr selbst geschehen war. Cristina hatte schon damals diese florentinischen Augen, feingepinselt, dunkel, aber ihre Haut war hell und verzeichnete jedes Haar, blondschimmernd zunächst und von einem Tag auf den anderen wie in Tinte getaucht, Unkraut, Farn und dann die Undurchdringlichkeit des Schamwalds. Sie hatte die Schwerelosigkeit von Aktmodellen, die nicht zögern, splitternackt am Jasmintee zu nippen.
    Und so, wie im Traumkarussell Marleen sich drehte und Cristinas Platz einnahm, begann sie Cristinas Erscheinung, ihre evolutionäre Schönheit mit sich zu tragen wie einen zweiten Körper. Das schaute sie sich von der jüngeren Schwester ab: ein Lächeln mit einem Runzeln der Stirn. Wie man die Schultern spannte, also die Brüste nicht versteckte. Wie man nicht mit den Armen fuchtelte, wenn jemand guckte. So lernte sie, die Signale der Jungen zurückzuschicken, schon nicht mehr ganz Marleen, Marlina oder Cristleen, das Lechzen von Franz-Josef und von Wölfi leichter zu ertragen mit diesem nussschalenartigen Gleichmut.
    Nicht die Ungeduld der Jungen als solche hatte ihr missfallen – die schwitzenden Handflächen und Erektionen beim Küssen, das gehörte wohl dazu –, sondern wie sie ihre eigene Angst verbargen. Sie wollten Mädchen betören, lähmen, knacken, »es« mitnehmen wie Diebesgut. Sie war froh, dass die Schulzeit vorbei war, das Gezischel am Vormittag und das Gefummel am Nachmittag.
    Hermanns Schwesters Wohnung: Cristina hat ihren Baumwollschlafsack mitgebracht – beige-braune Karos blassrot eingefasst –, und legt ihn falsch herum aufs Bett. So kann Marleen, während sie 1984 liest, Cristinas Füße sehen, aus der Nähe sogar. Cristina derweil hat, wenn sie von ihrem Buch aufschaut, die Aussicht auf den Rasen, nicht viel mehr als eine flauschiggrüne Linie, auf der allerdings jetzt ein halberMann mit einem Gartenschlauch unterwegs ist, der mittels einer kreisrunden Düse einen feinen Regen erzeugt. Die Viktorianischen Ausschweifungen bringen Cristina zum Kichern; Marleen macht »Mmh?«, aber bekommt keine Antwort.
    Später, am Holztisch in der großen Wirtschaft mit ihrem Geruch von Geschnetzeltem, Bier und Tabakrauch zögert Steidle, sich zu den Neusserinnen zu setzen, zumal er, das ist noch nie vorgekommen, Hermann im Schlepptau hat. Aber dann sind sie doch ein gutes Quartett, auch wenn die Mädchen viel zu jung sind, zu jung für den nahenden Krebstod von Hermanns Schwester, ein dunkles, beschwiegenes Thema, die Tischbeleuchtung vier rauchfarbene Ufos unter einem schmiedeeisernen Kreuz.
    So ein Tisch will bestellt sein. Da werden steinschwere Teller aufgetragen, Gläser mit schweren Böden, zinkklimperndes Besteck und in der Mitte, schattenlos, steht eine Flasche Hauswein ohne Etikett, der natürlich der Neuen die Frage in den Sinn kommen lässt, wo man sich befinde, und es stellt sich wieder einmal heraus, dass es keiner oder jeder besser weiß. Glücklicherweise macht Cristina wie zuvor ihre Schwester den Fehler, Steidle zu fragen, ob er Schwabe sei, was einige Ausführungen möglich macht zum besonderen und unverwechselbaren Charakter der Hohenloher. Die Hohenloher werden verglichen mit den Schwaben, die Schwaben mit den Oberschwaben, die Oberschwaben mit den Alemannen, die Alemannen mit den Badenern, die man auch gern Badenser nennt, weil sie, die Badenser, das nicht leiden können, abgesehen von den schier unendlichen Möglichkeiten, all diese Landschaften und ihre eingeborenen Dickschädel abzusetzen gegen den planen Norden mit seinen »Fischköppen«, was Marleen und Cristina nur durchgehen lassen, weil es sie nichts angeht. Es stellt sich heraus, dass die Schwätzer am Holztisch, die so gern »wissad’r« und »waasch«sagen, sehr viel eben auch nicht wissen; der Unterschied von Rheinland und Ruhrgebiet ist ihnen nicht bekannt, und mit dem Niederrhein wissen sie gar nichts anzufangen. Sie hören auch nicht zu, wenn Cristina es erklärt, sie starren ihr stattdessen in die Augen und auf den Mund und auf den Busen, was sie aber locker wegsteckt.
    Nach dem Essen hampeln die Mädchen zu zweit auf dem Fahrrad von Hermanns Schwester durch die Altstadt. Marleen fährt einen Umweg,

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