Nichts Weißes: Roman (German Edition)
an, wenn Sie da sind.«
Marleen sitzt auf der Treppe, es ist Juni. Sie strahlt. Sie leuchtet. Der Hörer schaukelt an der Spiralkordel, die sie mit links gedankenverloren hält. So einfach ist das, von zu Hause wegzukommen. Tut – tut – tut. Dass Cristina am Wandtelefon stehengeblieben ist, merkt sie erst, als die Schwester durch das Geländer greift, um den Hörer zurückzulegen.
Noch am selben Abend packte Marleen den dunkelblauenKunstlederkoffer, den ihr Vater bei seiner Reise nach Indien zehn Jahre zuvor zurückgelassen hatte, und nahm in der Frühe die S-Bahn nach Köln. Sie musste sich zwingen, dem Dom beim Abschied nicht zuzuwinken. Das Abteilfenster, querformatig, doch leicht gerundet, das obere Drittel heruntergelassen, schloss Marleen bei flotterer Fahrt. Linksrheinisch ging es bis Mainz, durch die Agglomeration bis in die Eisenhalle des Frankfurter Hauptbahnhofs, Portal zur Welt mit Junkies, und dort sah sie im Schaufenster der Bahnhofsbuchhandlung 1984 liegen. Nur, weil man das Jahr 1984 zählte, deshalb. Im Eurocity nach Nürnberg las sie die ersten zwei Kapitel und ein drittes beim Warten auf dem Bahnsteig. Menschen mit dicken Gesichtern und schwerer Zunge im Zug nach Treuchtlingen, der pünktlich war, das war damals üblich, ratternd wie eine Fabrik, aber pünktlich. Auf dem letzten Teilstück Richtung Nördlingen wurde die Zeit eine andere. Nicht, dass man die Uhr umstellen musste, nur seinen Sinn für die Landschaft.
Ulrich Steidle nahm »das Fräulein Schuller« in Empfang und zeigte diesem sogleich »das Haus«, eine labyrinthische Manufaktur, eingefasst in schweres Mauerwerk. Da saßen wirklich die Setzer an Maschinen, neben sich einen Behälter mit flüssigem Blei. Da klapperte die Heidelberger Druckmaschine und spuckte Rohbögen aus, sechzehn Buchseiten in kurioser Anordnung auf einem Blatt wie ein Mosaik. Marleen hatte sich den Betrieb größer vorgestellt, dabei beschaulicher, Brunnen und Pferd im Hof, so ungefähr. Dies war eher die schematische Darstellung einer Druckerei aus dem Handbuch für Papier, Schrift und Druck bei der Großmutter Fleck in Gruiten, übertragen in die Wirklichkeit: die schnellste Art, mit herkömmlichen Mitteln zum Buch zu kommen. Der Drucker fragte sie, ob sie einen Rohbogen »mit nach Hause« nehmen wolle. Erst jetzt dachte sie an ihr Gepäck. Das lag immer noch auf dem groben Fliesenboden, wo sie es hingeworfen hatte (auch die Schultasche mit fünfhundert Mark von Mama drin), die Holztür zur Straße stand offen, Abendlicht fiel herein. Steidle und sie staunten gleichzeitig, wie es sie fortgetragen hatte – reine Begeisterung. Er zeigte ihr die billigste Herberge, aber untersagte sich eine Einladung zum Essen. Als Marleen später einen Gasthof betrat, scheu, ihre Nase in den Raum zeigend wie ein Keil, hockte er allein an einem Tisch. Ohne zu fragen, setzte sie sich zu ihm.
Drei Tage haben sie Angst, die Berufsanfänger, dann kommt der Übermut. Bei Marleen war es nicht anders. Sie winkte den Lastwagen in die Einfahrt, der zehn Paletten frischer Druckbögen abholen sollte, um sie zum Buchbinder zu bringen. Dazu kam die flach bepackte Palette mit den Banderolen. Der Fahrer sprang aus dem Führerhaus – »Heilandsack!« –, baute sich vor ihr auf und erläuterte in tiefstem gurgelnden Schwäbisch: dass es nur drei Zeichen gebe. Arm nach rechts raus heißt nach rechts. Arm nach links raus heißt nach links. Beide hoch heißt Halt. Nicht rumhampeln dabei, und nur ein Zeichen zur Zeit. Am Ende stand der Lastwagen gerade und ließ die Stahlwand, die den Laderaum von hinten schloss, auf die Rampe sinken. Marleen griff nach einer Palette, die auf den Gabeln des Staplers bedrohlich schwankte: Grob fasste der Fahrer ihre Hand und riss sie zurück, während der Mann im Gabelstapler einen weiteren ihr unbekannten Fluch ausstieß. Erste Regel: Nie dich selbst gefährden!
Im Büro bekam sie dreihundert Mark Vorschuss. Den Rest des Tages sah sie den Setzern zu, Männern in Schürzen an Maschinen, die im 19. Jahrhundert erfunden worden waren, und so sahen die Dinger auch aus. Ein Klingeln, Scheppern und Wummern begleitete die Arbeit, die darin bestand, Textzeilen aus Blei herzustellen, die wie silberne Würmer ins Satzschiff schlüpften. Das hätte sie nicht gewusst, gestand sie Steidle.Sie hätte gedacht, die Buchstaben würden einzeln aus dem Setzkasten genommen und kombiniert.
»Werden sie auch, für die Titelei zum Beispiel. Aber für den eigentlichen Text wäre das
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