Nichts Weißes: Roman (German Edition)
viel zu langsam.«
»Stimmt.«
Am Abend isst sie Wurst und Brot auf dem Zimmer und sieht dabei auf die Gasse runter. Bei Dämmerung verlässt sie die Pension, geht bis zur Stadtmauer, sucht den Aufstieg und sieht sich fünf Jahrhunderte von oben an, jenseits der Mauer eine neuere Vorstadt, die auf die Kreisform der frühen Bebauung nicht mehr Bezug nimmt. Marleen macht ein Drittel der Runde und steigt am Turm in die Altstadt herab, Funzeln hinter Sprossenfenstern. Die kleinen Betriebe und Läden sind geschlossen, die Straßenlaternen werfen müde Kegel auf rissige Gassen. Aber es gibt da noch ein unwirkliches, kaltes Licht, das sie anzieht; dem versucht sie näher zu kommen. In einer Quergasse sind die Fassaden beleuchtet, als würde ein Film gedreht. Als sie dort einbiegt, liegt rechter Hand eine altertümliche, vollverglaste Fabrikhalle, in der riesige, blitzende Druckmaschinen stehen. Die Bögen werden vom Stapel gesaugt, eingefädelt, eingezogen, rasen durch die Walze, werden ausgespuckt, abgestoppt, eingefädelt … Vier Maschinen hintereinander, am Ende der Stapel. Es geht schnell – zischend, klickend, fauchend. Man kann mit den Augen kaum folgen. Es ist auch niemand mehr in der Halle. Die Einzige, die zuschaut, ist Marleen Schuller aus Neuss. Sie steht im grellen Schein und regt sich nicht. Wir sind froh, sie so zu sehen. Sie sieht glücklich aus.
Es ist Sommer, aber lieblicher als am Rhein. Man riecht, wie die Früchte reifen. Die Wolken lösen sich zu breiten Bändern, die später Schlaufen bilden, ein halbtransparenter Stillstand. Der Sonnenuntergang kommt etwas schneller als zu Haus, trotzdem bleibt es länger warm. Die Leute machen einSpiel draus, wenn man fragt, wie die Landschaft heiße. Es ist nicht Franken und auch nicht Schwaben, sagen sie.
»Sie sind aber aus Schwaben, oder?«, fragt Marleen. (Schon macht sie das »oder« nach.)
»Noo gor net«, antwortet Steidle.
Er ist Hohenloher. Hohenloher sind keine Schwaben. Sie sind so anders, so besonders, dass man fast meinen könnte, sie wären das Gegenteil von Schwaben, ja noch nicht einmal wirklich zu vergleichen, Welten wie Tiefdruck und Offsetdruck. Trotzdem sagen sie jetzt »du«.
Uli Steidle ist von Hohenlohe nach Ravensburg, wollte Illustration lernen, hat viel Zeit vertan damit, um schließlich herauszufinden, dass sein Geschick im Allgemeinen liegt. Er hat Überblick: Entwurf, Papierwahl, Satz, Litho, Druck, Logistik. Er konnte das nicht beweisen, als er seinerzeit mit einer dürftigen Mappe bei Tankred Volpe im Büro stand. Volpe hat es ihm angesehen. Steidle: ein Mann, der immer aussehen wird wie ein Junge, groß, schmal, bleich, blond, kurzgeschoren. Die Augen scheinen härter in der Verkleinerung der randlosen Brillengläser. In dreieinhalb Jahren ist er aufgestiegen vom Layout-Assi zum Herstellungsleiter. Er ist erst dreißig. Er fragt nicht, was in den Büchern steht. Er macht sie. Gäbe es ihn nicht, gäbe es die Eigene Bibliothek nicht; nicht so, wie sie im Buchhandel erscheint und an Abonnenten versandt wird: vollendet, vornehm, pünktlich. Sie bringt auch Geld. Volpe ist mit seinem Rover unterwegs. Er passt auf, dass in den Büchern etwas drinsteht, das zu lesen lohnt. Nebenbei fährt er Reklame für den Retrolook seines Programms. Zeitungsredakteure schwärmen dafür.
Hermann, der Setzer (einer von fünfen), taut am Ende der Woche auf, aber er hat auch ein Anliegen.
»Fräulein Schuller«, sagt er. Sie grinst. Er zögert.
»Hewwet Se a guade Underkunft g’funde?«
Er tut sich wirklich schwer. Seine Schwester habe in der Vorstadt eine Einliegerwohnung, klein aber fein. Sie sei im Moment »net dahom«, habe »g’sundheitlich Probleme, gell?«, und Marleen könne, wenn sie wolle, die Wohnung haben. Zum halben Preis.
Marleen grinst nicht mehr. Sie fragt sich, wie man es höflich zum Ausdruck bringt, dass sie aus der Krankheit einer anderen keinen Vorteil ziehen möchte. Sie druckst herum. Da wird Hermann deutlicher.
»Mei Schweschder, gell, die krebst halt sou am Minimum rum. S’is scho schwierich, so a Wohnung z’halde, wenn mr net schaffe kou.« Jetzt versteht Marleen. Sie zahlt die Hälfte der Miete und hilft so der Kranken, ihre Heimstatt nicht zu verlieren. Am selben Abend zieht sie ein. Sie stellt sich den Eigentümern vor, die obendrüber wohnen. Sie hält die Kuckucksuhr an. Sie saugt den Teppichboden. Telefon ist vorhanden, aber abgemeldet. Sie zieht den Vorhang auf. Die Fensterfront öffnet sich auf eine
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