Nichts Weißes: Roman (German Edition)
sollen.«
»Marleen, so ein Quatsch. Das war … Das ist eine totaldurchgedrehte Kommune oder Sekte oder was, alle total fixiert auf diesen Dingsdayogi. Kannst du dir das vorstellen, Mama in orangen Klamotten …«
Marleen: »Wir alle.«
Cristina: »Da kann man mal sehen, dass die Entfernung von der Kirche ernsthafte Dachschäden anrichtet.«
Marleen: »Wieso, vielleicht hätten wir die ja aufgemischt. Die Sekte wollte nicht unseren Papa, sondern den Medientyp aus der Eins-A-Agentur, seine Promotionideen, seine Kohle – und dann steht die ganze Familie da in Orange und …«
Cristina: »… wird nicht einmal reingelassen.«
Marleen: »Macht ja nichts. Hätten wir eben vor dem Tor des Aschrams gelagert, hallo rein und hallo raus.«
Cristina: »Und wären jetzt Hippiemädchen ohne Schulbildung …«
Marleen: »Nee, anders – ich meine, wir hätten Papa einfach nicht damit alleingelassen. Stell dir vor, du gehst in so eine Beten-und-Bumsen-Kommune und stolperst jeden Tag über deine Kinder.«
Cristina: »Und, was wäre dann?«
Marleen: »Dann wäre er zurückgekommen. Glaube ich.«
»Ist er ja«, sagt Cristina, während der stahlblaue Himmel ihr Gesicht eintönt, fein und kalt, die Dunkelheit ihrer Augen umso tiefer. Wenn man aussieht wie eine Madonna, denkt Marleen, ist das Schicksal vorgezeichnet. Cristina, auf dem Rücken liegend, wendet sich zur älteren Schwester, lächelt, das Lächeln misslingt.
»Er ist was?«, fragt Marleen.
Übrig bleibt ein Zucken der Lippen, und dann ist da ein Tränenbach, der herunterrinnt zu Cristinas Ohr und sich für einen Moment auf dem Ohrläppchen sammelt wie gefroren.
Marleen: »Er ist was?«
Es schüttelt die kleine Schwester, und sie wendet sich Marleen zu, die erleichtert feststellt, dass Cristina doch, anders als sie dachte, symmetrisch weint, wie es sich gehört.
»Papa.«
»Ist er nicht!«
Pause im Bericht. Cristina weint. Marleen fährt ihr mit dem kleinen Finger über die Augenbrauen. Cristina schämt sich nicht, wenn sie weint. Das war schon immer so.
Marleen versucht, die Lücke zu füllen, das riesige Luftloch zu stopfen, das sich vor ihr auftut, sie denkt: Papa lebt seit Jahren wieder in Düsseldorf, nur Johanna und Cristina wissen davon, sie besuchen ihn heimlich, sie haben ein zweites Leben. Ich und Mama voll angeschissen; aber Linus, was ist mit Linus? Unwahrscheinlich. Sie denkt: Papa war nur als Medienberater in Poona, vier Wochen wie geplant, ist aber nicht nach Düsseldorf zurückgekehrt, sondern nach München, wo er unter anderem Namen eine Filmproduktion … Und während Cristina unverständliches Zeug stammelt, spinnt sie die Luftlochgeschichten weiter. Marleen glaubt die Tränen zu riechen und die Äpfel wachsen zu hören. Schließlich beruhigt sich die Schwester und kann es erzählen.
Kaum war Marleen abgereist nach Nördlingen, schellte das Telefon.
»Cristina Schuller«
»Crissy, hier ist der Papa.«
»…«
»Sag mal, ist die Johanna da?«
»Die wohnt hier nicht mehr.«
»Ach ja, sie studiert …?« (Unangenehm ist es ihm schon.)
»Mama ist einkaufen. Linus kommt erst nachmittags aus der Schule. Marleen macht ein Praktikum in Bayern oder irgendwo.«
»Ich bin in Deutschland, Crissy.«
»Cristina.«
»Cristina.«
Am nächsten Tag nahm Cristina die Bahn zum Kölner Hauptbahnhof, ging zu Fuß zum Friesenplatz und fand in der Venloer Straße das Café wie beschrieben. Am Morgen hatte sie wachgelegen, gar nicht ihre Art, und überlegt, ob sie Mama einweihen sollte, mitnehmen vielleicht. Aber Lore Schuller saß über der Weihnachtsillu für Tschibodosen und wirkte nicht so, als dürfe ein Petrus ihr den Julitag verderben.
Im Gartenbereich eines Sannyasincafés saßen Gäste, ein Tisch war reserviert. Eine schmale Frau mit bronzenem Teint und geübter Entspanntheit fing Cristina ab, wies ihr den Stuhl an. Zwei Männer erschienen gleichzeitig. Der jüngere wischte gründlich den Tisch ab, der gar nicht dreckig war, der ältere setzte sich Cristina gegenüber. Er berührte sie nicht; er gab ihr nicht einmal die Hand. Die Frau nahm die Bestellung auf, wobei sie Petrus Schuller mit einem exotischen Namen ansprach. In der folgenden Viertelstunde fand ein lückenhaftes Gespräch statt, nur für Momente unbewacht. Petrus hatte jetzt lange Haare, graue Locken. Er deutete an, dass er den Umzug des Aschrams nach Amerika zwar noch mit vorbereitet habe, aber nicht mehr dabei sein werde.
»Ich habe hier eine Basis … Nun muss ich doch mal
Weitere Kostenlose Bücher