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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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so dass sie vor der gewaltigen Fensterfront haltmachen können, hinter der grell erleuchtet die riesige vierphasige Druckmaschine nun, am Sonnabend gegen Mitternacht, stillsteht.
    »Und da arbeitest du.«
    »Nein, das ist die Beck’sche Druckerei.«
    Von der Seite sieht Cristina ihre Schwester an, die nicht zurückblickt. Das hatte sie schon immer, dieses Gaffen und nichts sagen wollen.
    Später geht es mit Hallo durchs Stadttor, der Hinterreifen könnte mehr Luft haben, Cristina wird das Profil des Kopfsteinpflasters auf den Po gestempelt. Sie rufen einander lustige Dinge zu über die schwäbischen Männer, wie sie sie nennen, aus Gemeinheit, denn dieser Hermann will unbedingt Franke sein, und der Steidle …
    »Den sollten wir mal vernaschen!«, ruft Cristina.
    Es schaudert Marleen, sie guckt vorsichtshalber geradeaus.
    »Wie meinst du, wir?«
    »Das ist doch der Traum der Männer, zwei auf einmal.«
    »Glaubst du?«
    »Das weiß doch jeder!« Gegacker. »Jede!«
    Dann, Cristina hat sich ein altertümliches weißes Nachthemd mitgebracht, liegen sie wieder in der verkehrten Weise auf dem großen Bett und lesen in ihren Büchern. Bevor die Lichter gelöscht werden, erzählt Marleen von WinstonsAbenteuern im alten London, seinem Versuch, Zeugnisse der Vergangenheit, seiner eigenen Erinnerung aufzutreiben:
    »Und das Antiquariat ist im gleichen Viertel wie die Puffs. Erst geht er zu einer Hure, dann ins Antiquariat.«
    Cristina blättert in den Ausschweifungen . »Für diesen Walter ist London damals schon eine vergangene Welt. Er sagt, die Freudenhäuser wären längst geschlossen gewesen oder abgerissen.«
    Marleen: »Was ist das Älteste, was du kennst?«
    Cristina: »Die Pyramiden, oder?«
    Marleen: »Nee, was du selbst gesehen hast.«
    Cristina: »Diese unterirdischen Mauern, die in Köln freigelegt wurden, als ich in der ersten oder zweiten Klasse war. Und was ist das Älteste für dich?«
    Marleen: »Kannst du dich erinnern an ein Bild im Fotoalbum?«
    Cristina: »Welches denn?«
    Marleen: »Wir alle fünf vor dem Reihenhaus, Nummer hundertdrei. Oder hundertfünf. So richtig aufgestellt. Links noch so grade im Bild der Lancia.«
    Cristina: »Der Alfa.«
    Marleen: »Dann kannst du dich erinnern?«
    Cristina: »Ich weiß, dass wir einen Alfa hatten, keinen Lancia.«
    Marleen: »Ist doch egal. Kannst du dich erinnern?«
    Cristina: »In Schwarz-Weiß?«
    Marleen, enttäuscht: »Ach was, in Farbe.«
    Cristina: »Weißt du was, ich gucke mir nie Fotoalben an. Und niemals sind Fotos das Älteste, was man gesehen hat.«
    Marleen: »Mh.«
    Cristina: »Hä?«
    Marleen: »Irgendwie doch.«
    Und während von Cristina nichts mehr kommt, schläftMarleen ein. Eines von hundert Gesprächen zwischen den Schwestern aus der Pomona: Sie finden statt, um andere Gespräche zu verhindern. Das Ziel ist zu schlafen und nicht zu weinen. Das spart Cristina sich auf für den nächsten Tag.

Markise
    Am Sonntag war es gelungen, eine Pumpe aufzutreiben und ein zweites Fahrrad zu leihen. Die Schwestern fuhren aufs Land, wo sie sich auf einer Apfelbaumwiese niederließen, die Früchte schon gut zu sehen, die Stadt Nördlingen in der Ferne wie ein blasser Kupferstich. Cristina behauptete nun, dass sie sich erinnere, aber nicht an das Bild vor dem Reihenhaus, sondern an die Situation selbst; der Architekt aus Düsseldorf habe die Kamera bedient. Vielleicht sei dies sogar ihre erste Erinnerung, oder ihre älteste, falls Marleen dies gemeint habe.
    Marleen wusste nicht mehr, was sie in der Nacht zuvor gemeint hatte, aber sie nutzte die Gelegenheit, mit Cristina einzutauchen in jene Zeit, in der zwei Autos vor der Tür gestanden hatten, die Kinderrotte allgegenwärtig, die Kommunion noch fern; Johanna die tolldreiste Anführerin; die Geburt des Bruders wie Weihnachten; alle vor dem Fernseher, als Ulrike Meyfarth wie ein Lasso über die Latte setzte: in Farbe, definitiv. Der Wind wehte aus Düsseldorf, Geld und Visionen, man segelte schneller als die anderen. Dann jahrelanges Schweigen über das Wegbleiben des Vaters, »weil es nichts bringt«, wie Johanna beschlossen hatte – mit zwölf –, und der Mama war es recht, oder zumindest schien es so.
    Marleen: »Jedenfalls ist er für … für eine große Sache abgehauen. Nicht für eine andere …«
    Cristina: »Woher willst du das wissen. Denk an die Bilder aus … Puma, oder wie das hieß.«
    Marleen grinst. »Manchmal denk ich, wir waren doch blöd, und wir hätten alle hinterherreisen

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