Nichts Weißes: Roman (German Edition)
sehen, was mir entgangen ist … Es ist keineswegs so, dass ich meine Wurzeln vergessen hätte, im Gegenteil, ich weiß jetzt sehr viel besser, woher ich komme … Vielleicht bin ich gar nicht der Spinner, für den sie mich alle halten …«
Cristina dachte, er meint in Wirklichkeit uns. Mama. Marleen. Mich. Aber sie fand die Worte nicht, ist abgehauen.
»Du bist abgehauen?«
»Mmh.«
»Einfach so? Was hast du denn gesagt?«
»Ich hab’ …« Cristinas Stimme hört sich an wie Frosch-im-Teich.
»Du hast was?«
»Ich hab’ nach der Toilette gefragt. Diese Frau hat mich mit reingenommen, das Klo war im Keller, hinter der Garderobe oder so ’ner Trennwand ging die Treppe runter. Als ich wieder oben war, bin ich zur Vordertür raus, ich hab’ mich nicht mal mehr umgesehen.«
Cristina hat sich beruhigt. Marleen ordnet der Schwester das Haar. Sie wartet. Sie wartet eigentlich schon, seit Cristina angekommen ist. Die Jüngere trägt ihre Geheimnisse wie eine Fratze. Sie ist nicht dafür gemacht, etwas zu verbergen.
»Das sind diese Kontrollniks. Die wollten euch nicht unter vier Augen sprechen …«
»Augen!«
Cristina schüttelt es.
»Dgantzeit hat er dieS …«
»Cristina, ich versteh’ dich nicht.«
»… hat er die bscheurte Sonn …«
»… die Sonn?«
»Die Sonnenbrille nicht abgenommen. Nicht für einen Moment.«
Tränen über Tränen, das tut der Apfelbaumwiese gut und Cristina auch, die nun ganz weich wird unter Marleens Händen, ein warmer Puschel wie früher. So ein Schwein, denkt Marleen. So ein Schwein.
Die andere Hälfte wird auf der Rückfahrt berichtet, die beiden Fahrräder nebeneinander auf der Landstraße. Am Tag nach Köln hatte sich Cristina auf eine Party selbst eingeladen, die zugleich ein Geburtstag war – Franz-Josefs – und ein weiteres Abiturbesäufnis von Marleens Jahrgang, ein großes, weißes Haus in Meerbusch, die Eltern in der Provence, Nico und Harald abwechselnd am Plattenteller: Bowie, Talking Heads, Police und alle zwei Stunden Dancing Queen , aber nur um jene Jungs auf die Palme zu bringen, die am liebsten HolgerCzukay gehört hätten; ein unverschlossener Weinkeller; die Zimmer der fortgezogenen Töchter, drei Betten. Zwischen Mitternacht und Dämmerung ist Cristina alles egal gewesen – oder es kam genau drauf an, schwer zu sagen –, jedenfalls war Wölfi der Erste, der in ihre schwarze Seele blickte und den Augenblick zu nutzen verstand.
»Wölfi!«, ruft Marleen.
»Findste wahrscheinlich voll übel.«
»Kann er’s wenigstens inzwischen?«
Das große Gelächter der Schwestern hallte noch lange von der Stadtmauer wider. So ging der Sonntag zu Ende. Am Montagmorgen besichtigte Cristina die Druckerei, eher aus Höflichkeit, bevor sie in Richtung Bahnhof verschwand; am Dienstag gegen Mittag nahm Volpe Marleen beiseite:
»Hören Sie, Fräulein …«
»… Schuller …«
»Nein, ich weiß schon …«
»Mar- leen .«
Volpe grinste, als hätte sie Geneviève gesagt.
»Marleen, es gibt Business in Mailand. Ich hätte gern, dass sich jemand mit mir umschaut und auch mitschreibt. Könnten Sie Ihre Aufgaben hier für drei Tage ruhen lassen? Zum Wochenende sind wir wieder da.«
»Moment«, sagte Marleen.
Sie suchte Steidle, der den Braten schon gerochen hatte und sich in der Pausenklause der Drucker versteckt hielt, vorgeblich etwas suchend. Er bemühte sich sehr, kein Bedauern zu zeigen; eine gewisse Traurigkeit war ihm in die Augen geschrieben; sehr ungern hörte Marleen ihn bekräftigen, dass sie abkömmlich sei. Wobei sie plötzlich merkte, was sie wollte, nämlich unentbehrlich werden. Aber Volpe zu brüskieren konnte auch nicht richtig sein. Außerdem: Mailand.
»Es ist möglich«, sagte sie zu Volpe, der gerade einem Setzerüber die Schulter sah, als sie zurückkam. Marleen machte sich mit dem Fahrrad davon. Eine Dreiviertelstunde später hielt der Rover vor dem Haus mit der Einliegerwohnung. Der olle blaue Koffer wurde eingeladen, recht plump neben Volpes Pilotencase mit doppeltem Zahlenschloss in Messing.
»Sie sind hoffentlich informiert, was den Trauerfall betrifft«, murmelte Volpe.
»Nein.«
»Nein?«
»Welcher Trauerfall?«
»Hermann Schmidts Schwester ist gestern ihrem Krebsleiden erlegen.«
»Oh.«
Sobald die Autotür sich schließt, ist man in England. Das Lederpolster ist kühl, die sechs Zylinder brummen; jetzt könnte der Tee gereicht werden. Bei hundertzwanzig auf der Landstraße nach Donauwörth singen die Autotüren Schuberts
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